Symposium: Sitting Here in Nowhere Land.
Musik in Utopien – Utopien in Musik, 16. - 17. September 2024
Vom 16. bis 17. September 2024 findet in Weimar das Symposium Sitting Here in Nowhere Land. Musik in Utopien - Utopien in Musik statt.
In der Gegenwart, die mit Klimakrise, Pandemie und Kriegen von eher dystopischen Zukunftsbildern geprägt wird, erlebt utopisches Denken eine Renaissance. Utopien entwerfen im Niemandsland einer fernen Insel, eines anderen Planeten oder – seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – in einer fernen Zukunft ein ideales Bild des menschlichen Zusammenlebens, in dem oft auch Musik eine gewichtige Rolle spielt.
Musik in Utopien: In Sozialutopien, literarischen Utopien und Science-Fiction-Romanen nehmen Musik und musikalische Praktiken oft einen prominenten Platz ein. Doch auf welche Weise werden diese mit dem Entwurf eines glücklichen Zusammenlebens und eines gelingenden Lebens verknüpft? Kommen der Musik eher ethische Qualitäten zu oder steht Musik einfach für den spielerisch-sinnlichen Genuss des Augenblicks?
Utopien in Musik: Die sogenannten ‚schönen Stellen‘ (Adorno) gewähren in diesem Sinne einen kurzen Blick ins Paradies. Doch Musik nimmt auch durch programmatische Titel oder Liedtexte, im Musiktheater oder durch assoziierte Bilder auf eine bessere (utopische) Welt Bezug, beschreibt diese oder entwirft ein eigenes utopisches Szenario. Neben allen textlichen und visuellen Bezügen stellt sich dabei die Frage, ob und wie die Bezugnahme auf Utopisches klanglich gestaltet ist: als akustischer Spiegel einer ungenügenden Gegenwart, oder aber als Ausblick in eine utopische Klangwelt? Beispiele finden sich u.a. bei Stockhausen, Nono und Pagh-Paan, aber auch in Klangutopien jenseits der binären Geschlechterordnung.
Diese und weitere Themen stehen im Zentrum der Tagung. Sie setzt sich zum Ziel, den Diskurs um Musik und Utopie weiterzuführen und auf eine Gegenwart zu beziehen, die einen utopischen Horizont verloren zu haben scheint.
Das Symposium wird organisiert von Prof. Dr. Nina Noeske und Prof. Dr. Martin Pfleiderer.
Ort: Festsaal Fürstenhaus
Die Veranstaltung wird per Zoom gestreamt. Teilnahme unter:
Montag, 16.9.: (Link)
Dienstag, 17.9.: (Link)
Programm
Eine Programmübersicht des Symposiums finden Sie hier.
16. September 2024
14.00 Uhr Jens Ewen, Jörn Arnecke, Nina Noeske und Martin Pfleiderer: Grußwort und Einführung
14.30 Uhr Lucian Hölscher, Bochum: Utopie und Musik - zur Auslotung eines Spannungsverhältnisses
Utopie und Musik weisen manche gemeinsamen Züge, aber auch mancherlei Differenzen untereinander auf:
Beide gründen in der Zeit, in der sie entstehen, aber beide transzendieren diese Zeit auch auf überzeitliche Aussagen hin, die ihre Grenzen nicht in der Zeit ihrer Entstehung finden. Beide, Utopien wie Musikstücke evozieren Gefühle ohne Verfallsdatum, doch zugleich lassen sie uns intensiv in die Zeit eintauchen, in der diese Gefühle erstmals erregt worden sind. Die utopische Aufladung von Musik und die musikalische Aufladung von Utopien gehen Hand in Hand, doch zugleich legt ihr wechselseitiger Verweis aufeinander auch Seiten frei, die an keinem der beiden Medien allein aufscheinen würden. Damit stellt sich die Frage, in welchem Sinne und in wie weit Utopien und Musikstücke durch neue Erfahrungen überholt werden können. Ein kurzer exemplarischer Durchgang durch die neuzeitliche Musik- und Utopiegeschichte soll dies deutlich machen.
Lucian Hölscher ist Professor em. für Neuere Geschichte und Theorie der Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der neuzeitlichen Religionsgeschichte, der Begriffsgeschichte und der Historischen Zukunftsforschung. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen „Die
Entdeckung der Zukunft“ (2016), „Zeitgärten. Zeitfiguren in der Geschichte der Neuzeit“ (2020), und "Schattenwelten. Die dunkle Seite der Aufklärung“ (2023).
15.30 Uhr Pause
16.00 Uhr Katerina Grohmann, Berlin: "Ich habe schon immer versucht, alles, was in der Welt geschieht, in Musik hineinzuziehen": Die Zukunftsvisionen Karlheinz Stockhausens
Ein singendes Weltparlament, das über den Wolken über das Thema “Liebe” konferiert und sich ungeachtet aller Hindernisse einigt; ein Orchester, das ausschließlich aus Solisten besteht, jeder als solcher vom Auditorium deutlich wahrnehmbar; ein Streichquartett, bei dem die Musik “buchstäblich in der Luft fliegt” - das sind die Zukunftsbilder einer utopisch vollkommenen Welt in der Vorstellung Karlheinz Stockhausens. Seine Prophezeiungen sind weitestgehend genauso bekannt wie seine kompositorischen Errungenschaften: Ob eine rapide Technifizierung der Gesellschaft, die mittels der Verkörperung verschiedener Fusionen zwischen Menschen und Objekten in Szene gesetzt wird, oder simultane Aufführungen durch mehrere Musikergruppen in verschiedenen Räumen, anhand von Live-Übertragung miteinander synchronisiert und an das Auditorium vermittelt - all diese Zukunftsvisionen waren zuerst in seinem Werk zu sehen, bevor sie in abgewandelter Form zur Realität geworden sind.
Katerina Grohmann studierte Musikwissenschaft an der Musikhochschule Minsk. Bereits damals stand das Schaffen Karlheinz Stockhausens im Fokus Ihres wissenschaftlichen Interesses, dieser thematische Schwerpunkt bedingte auch Ihr Promotionsstudium an der Universität zu Köln. Mehrmals mit Stipendien des DAAD und des Goethe-Instituts ausgezeichnet, wirkt sie als freischaffende Musikwissenschaftlerin, u.a. auch als Dozentin an den Internationalen Stockhausen-Kursen in Kürten. Auch als Dozentin in verschiedenen Bereichen des musikpädagogischen Spektrums aktiv.
16.45 Uhr Matthias Tischer, Neubrandenburg: Von Kürthen nach Sirius. Die (utopische) Idee der Neuen Musik
Nach dem Zweiten Weltkrieg scheint sich in der Musikgeschichte etwas zu wiederholen: Nachdem die Religion im Zuge der Aufklärung in eine Krise geraten war, gingen Teile ihrer funktionalen Zusammenhänge auf die Kunst über – so wurde etwa die Beethovenbüste in der Wohnstube zum weitverbreitetsten Andachtsobjekt neben dem Kruzifix.
Nachdem die Volksgenossen mehrheitlich „1000 Jahre“ fromm an Adolf Hitler geglaubt hatten, entstand nach dem Zweiten Weltkrieg ein spirituelles Vakuum. Ästhetische Identifikationsangebote sollten diese Lücke füllen helfen. Im sowjetischen Einflussbereich lag die Konversion vom Hitlerismus zum Stalinismus nahe. Im Westen war die Lage anders, aber ähnlich. Zeitweilig konnte sich auf dem Gebiet der Musik eine non-kommunikative, erklärungstotale, bierernste, hermetische Kunst etablieren, welche deutlich sakrale, aber auch utopische Züge trug. Mein Vortrag erzählt die Geschichte dieser Ersatzreligion als Utopie bis zum Schisma bzw. der Götterdämmerung.
Matthias Tischer (Jg. 1969) studierte u.a. Musik und Musikwissenschaft, wurde promoviert mit einer Arbeit zur Musikästhetik im 19. Jahrhundert und habilitierte sich nach Aufenthalten als Gastwissenschaftler in Harvard und Berlin am gemeinsamen Institut für Musikwissenschaft der Universität Jena und der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar mit einer Arbeit zur politischen Musikgeschichte (Paul Dessaus Orchestermusik in der DDR). Er war Vertretungsprofessor an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg und ist (seit 2011) Professor für Ästhetik und Kommunikation an der Hochschule Neubrandenburg. Sein Forschungsinteressen sind u.a. Musikästhetik, Popkultur, Mediengeschichte und die Kulturgeschichte des Kalten Krieges. Zusammen mit Nina Noeske und Lars Klingberg leitet er das Projekt „Musikgeschichte Online: DDR“ (https://mugo.hfm-weimar.de/de).
17.30 Uhr Pause
17.45 Uhr Sebastiano Gubian, Berlin: Musikalische Utopien im XX. Jahrhundert: Nono und Xenakis zwischen Abstraktion und Engagement
Die Musik und das Denken von Luigi Nono und Iannis Xenakis sind zwei der wichtigsten Formen musikalischer Utopien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Obwohl die beiden Komponisten ähnliche politische Sympathien hegten, unterschieden sich ihr Denken und die gesellschaftliche Rolle, die sie ihrer Kunst zuwiesen, bis auf wenige Ausnahmen radikal voneinander. Die Richtungen, die die beiden Komponisten einschlugen, können in ihrer Unterschiedlichkeit die wichtigsten utopischen Tendenzen in der Musik nach dem Zweiten Weltkrieg darstellen. Vom Projekt der Ville cosmique bis zu den Polytopen strebt Xenakis eine Erweiterung des künstlerischen Werks über die Grenzen des musikalischen Bereichs hinaus an, indem er sich von historischen Bindungen emanzipiert, während Nono die Utopie als Engagement sowie als Versuch der Emanzipation vom musikalischen Eurozentrismus versteht. Es sollen nicht nur die Unterschiede zwischen diesen beiden Auffassungen untersucht werden, sondern auch und vor allem die möglichen Berührungspunkte.
Sebastiano Gubian (1997) schloss sein Studium in Philosophie an der Universität Bologna und in Klavier am Konservatorium von Triest mit Auszeichnung ab und ist derzeit Doktorand in Musikwissenschaft an der Universität der Künste (Berlin) unter der Betreuung von Prof. Dr. Dörte Schmidt. Sein Forschungsinteresse liegt in den Beziehungen zwischen Musik und Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit besonderem Fokus auf Persönlichkeiten wie Leibowitz, Schaeffer, Xenakis und Nono. Er veröffentlichte zwei Monographien beim Agenda Verlag (Italien).
18.30 Uhr Shin-Hyang Yun, Berlin: Poetische Bilder – ein musikalisch-utopischer Entwurf? Am Beispiel ausgewählter Gesangstexte von Younghi Pagh-Paan
In diesem Vortrag geht es um die Aspekte musikalisch-utopischer Entwürfe der sprachlich doppelt kodierten Komponist:innen. Im Fall von Younghi Pagh-Paan spricht sie von einem Konzept des Utopischen zwar nicht direkt, die Suche nach einer „musikalischen Symbiose“ (Shin-Hyang Yun) jedoch, die sie durch mehrsprachige Poesie zu vermitteln versucht, steht einem solchen Konzept sehr nahe. Denn die poetischen Bilder überschreiten die sprachliche wie kulturelle Grenze und so verbinden verschiedene Sprachen. Im Zentrum des Vortrags steht das Stück Warte nur balde… (2015) für Sopran und deutsch-koreanisches Ensemble von Younghi Pagh-Paan, in dem das Gedicht Ein Gleiches - Wanderers Nachtlied II - (1780) von Johann von Wolfgang Goethe als literarische Vorlage dient.
Auf der Grundlage der Untersuchung stellt der Vortrag die folgenden Fragen zur Diskussion: inwiefern können die poetisch vermittelten Klangbilder im Allgemeinen als ein Entwurf der musikalischen Utopie aufgefasst werden? Wie geht die so entworfene Utopie mit dem Begriff „Heimat“ (Ernst Bloch) einher? Lässt sich dieser unter dem Aspekt jener „Utopie des Weiblichen“ (Walter Benjamin; Christine Buci-Glucksmann) beleuchten? Schließlich möchte ich die Anwendungen dieser Fragestellungen auf diversitätssensible künstlerische Praktiken erkunden.
Dr. Shin-Hyang Yun studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Universität Freiburg i. Br. und promovierte an der Universität Köln in Musikwissenschaft (Ph. D.). Sie war Post-Doc. Researcher in Korean Art Research Institut an der Korean National University of Arts, Seoul, Gastprofessorin an der Keimyung Universität, Daegu, Korea. Neben der Lehre an den verschiedenen Hochschulen wurde zuletzt die Monografie "Klänge des Widerhalls. Koreanisch-deutsche Komponistinnen und Komponisten unterwegs" publiziert.
Abendessen
17. September 2024
09.30 Uhr Nina Noeske, Weimar: Nirgendheim. Musikalische Horizonte zwischen Sozialutopie und (zu) schöner Stelle
Zum Thema „Musik und Utopie“ wurde in den vergangenen Jahrzehnten viel geschrieben und geforscht. Umso wichtiger ist – gerade in einer Gegenwart, der der utopische Horizont zu entgleiten droht – eine Bestandsaufnahme mit (Gegenwarts-)Diagnose. Der Vortrag geht zunächst den expliziten Spuren des Musikalisch-Utopischen in der Kulturgeschichte zwischen Bacon, Liszt, Wagner, Bloch und den Avantgarden des 20. Jahrhunderts bis hin zu aktuellen musikalischen Entwürfen nach, um bei den ‚Schönen Stellen‘ in der Musik als dezidierten ‚Nicht-Orten‘ zu verweilen. Ausgehend von Adornos berühmtem Radiovortrag von 1965 soll erneut – und aktualisiert – nach deren utopischem Potential auf dem schmalen Grat zwischen ‚Realismus‘ und ‚Kitsch‘ als dem ‚zu Schönen‘ gefragt werden. Dabei gilt es auszuloten, welche Aspekte der ‚Schönen Stelle‘ als einer Art musikalischem ‚locus amoenus‘ utopisches Potential freizusetzen vermögen – und auf welche Weise dies durch die ästhetische Antizipation eines ‚gelungenen Lebens‘ geschieht.
Nina Noeske war – nach beruflichen Stationen in Weimar (Promotion 2005), an der HMTM Hannover (Habilitation 2014) und der Universität Salzburg (Assistenzprofessur 2012–2014) – von 2014-2022 Professorin für Musikwissenschaft mit einem Gender-Schwerpunkt an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Seit 2022 ist sie Professorin für Musikwissenschaft (Schwerpunkt 19. Jahrhundert) an der Hochschule für Musik Weimar. Lehr- und Forschungsschwerpunkte in der Musik- und Kulturgeschichte von ca. 1800 bis heute. U.a. Co-Leitung und Herausgabe der Online Projekte MUGI (https://mugi.hfmt-hamburg.de/) und MUGO (https://mugo.hfm-weimar.de/de).
10.15 Uhr Beate Kutschke, Berlin: Zum Stellenwert von Utopie im musikphilosophischen Denken Adornos
Der Vortrag rekonstruiert die Einbindung des Utopiebegriffs in Adornos musikphilosophischen Schriften. Er beschreibt dessen Bezug zu anderen musikästhetisch relevanten Konzepten und Denkfiguren: dem Fragment, der Chiffre, Kitsch, Surrogat, Epiphanie, (Un-)Einholbarkeit und – last but not least – Humanität. Die Auseinandersetzung mit Adornos Denken erfolgt dabei nicht ahistorisch-normativ, sondern der Vortrag nimmt die jeweiligen zeithistorischen und soziopolitischen Ereignisse und gesellschaftlichen Stimmungen (Zeitgeist) als Katalysatoren für die jeweilige Ausgestaltung von Adornos musikphilosophischen Denkfiguren in den Blick. Er steuert damit bewusst den musikpolitischen Leitlinien derjenigen Musikinstitutionen entgegen, die seit dem Neuaufbau der Musiklandschaft in der Bundesrepublik nach 1945 die Finanzierung, Aufführung und Verbreitung zeitgenössischer Musik bestimmten.
Beate Kutschke ist Privatdozentin an der Universität Salzburg. Sie hat in der Vergangenheit zu Musik und Protest um 1968, Avantgardemusik, Musikästhetik und Semiotik, Musik und Heroismus, Barockoper und Ethik vornehmlich aus einer kulturwissenschaftlich orientierten Perspektive geforscht. In ihrem letzten großen Projekt (vierte Monographie, in Vorbereitung) rekonstruiert sie die Verbreitung der kleinen gerundeten zwei-/dreiteiligen Form in Europa des 17. und 18. Jahrhunderts mit Hilfe eines eigens zur Formanalyse entwickelten digitalen Tools.
11.00 Uhr Pause
11.30 Uhr Susanne Heiter, Nürnberg: Musikbezogene Utopien und Musikpraxis in der Leipziger Frauenbewegung
Die organisierte Frauenbewegung hat sich in Deutschland maßgeblich um den Allgemeinen Deutschen Frauenverein konstituiert, der 1865 von Louise Otto-Peters und anderen in Leipzig gegründet wurde. Als Publizistin schrieb sie auch über das Musikleben und verfasste mehrere Opernlibretti, war selbst aber keine ausübende Musikerin. Die Musik war ihr damit womöglich nah und fremd genug, um als Projektionsfläche für Utopien der Vergemeinschaftung zu taugen, welche für eine breite Wirkmacht der Anliegen der Frauen, für eine organisierte Frauenbewegung, essentiell erschienen. Allerdings war das Musikleben im Leipziger Frauenbildungsverein nicht mit nennenswertem aktivistischen Repertoire verbunden (anders als etwa die „Suffrage Music“ in den USA), vielmehr pflegten die Frauen ein bürgerliches Salonrepertoire. Der Vortrag erkundet das Verhältnis musikbezogener Utopien im Schrifttum Otto-Peters’ zur gelebten Musikpraxis in den Frauenbildungsvereinen im breiteren Kontext aktivistischer Musik.
Dr. Susanne Heiter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik Nürnberg. Sie studierte Schulmusik und Biologie und promovierte 2019 über Tiere und Tierlaute in der Musik nach 1950. 2011–2019 Projektmitarbeiterin zu den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik; 2019–2023 Juniorprofessorin (vertr., Schwerpunkt Gender Studies) an der UdK Berlin. Aktuelle Forschungsinteressen: Neue Musik, musikwissenschaftliche Human-Animal-Studies, Ökomusikwissenschaft, Frauenbewegung und Musik im 19. Jh.
12.15 Uhr Cornelia Bartsch, Hamburg: Das Hörbare und das Unhörbare: Klangutopien jenseits des Anthropozäns und der binären Geschlechterordnung
Ökofeministische Denker*innen wie Anna Tsing, Donna Haraway und andere rekurrieren auffällig oft auf Musik und Klang, um vernetzte, speziesübergreifende Seinsweisen zu veranschaulichen, die durch Klimawandel und Artensterben in Gefahr sind. Ausschlaggebend hierfür ist u.a. die Fluidität des Klangs, die einen Raum jenseits von Subjekt-Objekt-Binarität und logozentrischer Semantiken eröffnet. Polyphone Texturen und eine Klangorganisation, die den linearen Zeitverlauf aushebelt, werden mit der Hörbarkeit subalterner Existenzweisen ohne Subjektstatus assoziiert. Ganz ähnliche Merkmale weisen die filmmusikalische Codes auf, die in gegenwärtigen Spiel- und Dokumentarfilmen mit Figuren jenseits der binären Geschlechterordnung verbunden werden. Was haben non*binäre Figuren mit ökologischen Netzwerken zu tun? Welche Utopien werden durch diese Affininäten erkennbar? Welche hegemonialen Strukturen werden fortgeschrieben?
Cornelia Bartsch ist Musikwissenschaftlerin. Nach ihrer Promotion (Fanny Hensel, Musik als Korrespondenz, Kassel 2007) lehrte und forschte sie als Vertretungs- und Gastprofessorin in Deutschland, Österreich und der Schweiz, zuletzt an der TU Dortmund und der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Musikästhetik und Wissensordnungen seit dem 18. Jahrhundert, Musik und das Post*koloniale, Musik und Diversität, queere Störmomente in den Künsten und ihren Wissenschaften.
13.00 Uhr Mittagspause
14.30 Uhr Stefan Drees, Berlin: Von „Ododions“ und „Spatiokomponisten“: Musik und musikalische Praxis in der Sciencefiction-Literatur
Mit Entstehung des Sciencefiction-Genres verschiebt sich die Schilderung des ‚Anderen‘ imaginierter utopischer Orte und damit verknüpfter gesellschaftlicher wie technologischer Szenarien auf eine Darstellung zukünftiger irdischer oder außerirdischer Zivilisationen. Der Vortrag beschäftigt sich mit einigen Beispielen aus der rund 150-jährigen Geschichte der Sciencefiction-Literatur, in denen Musik eine Rolle spielt. Dabei werden drei Arten der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand unterschieden: 1. die Beschreibung der Rezeption von Musik als Unterhaltung und Zerstreuung, die sich vor allem aus der Projektion aktueller technologischer Entwicklungen in die Zukunft ergibt; 2. die Schilderung der spezifischen Beschaffenheit von Musik oder Kunstformen mit musikalischem Anteil aus der Perspektive praktischen Musizierens inklusive der Darstellung ihrer Wirkung auf das Publikum; und 3. die Verschränkung musikalischer, ästhetischer und medienspezifischer Fragestellungen als diskursiver Bestandteil des Nachdenkens über Politik und Gesellschaft.
Stefan Drees ist Musikwissenschaftler mit Forschungsschwerpunkten Violinmusik, Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, Musik und Medien und zeitgenössisches Musiktheater. Er studierte Violine und Musikwissenschaft in Essen und Bochum. Nach diversen Lehraufträgen und Gastprofessuren in Münster, Marburg, Gießen, Heidelberg, Wien, Essen und Luzern wurde er im Sommersemester 2016 als Professor für Musikwissenschaft an die Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin berufen. Weitere Informationen und eine Auswahlbibliografie finden sich unter www.stefandrees.de.
15.15 Uhr Karl Traugott Goldbach, Kassel: Musik als Erinnerte Vergangenheit in dystopischen Romanen von Jewgeni Samjatin, George Orwell und Margaret Atwood
Viele in der Zukunft angesiedelte Romane schreiben in ihrer Darstellung von Musik bekannte Tendenzen in der jeweiligen Gegenwart fort. Die hier betrachteten Werke binden zusätzlich Musik aus ihrer Entstehungszeit als Referenz an die Vergangenheit ein. Die Musik im Einheitsstaat in Jewgenis Samjatins My [Wir] entspringt mathematischen Kalkulationen. Als Gegensatz begleitet die chaotisch erscheinende Klaviermusik von Alexander Skrjabin den Protagonisten, während er aus den gesellschaftlichen Strukturen ausbricht. In Georg Orwells Nineteen Eighty Four entsinnt sich Winston Smith immer besser an Text und Melodie eines Abzählreims aus seiner Kindheit, je mehr er sich vom Staat entfernt und seiner physischen und psychischen Auslöschung entgegengeht. Die Protagonistin Offred erinnert sich in Margaret Atwoods A Handmaid’s Tale an die Gospels, die ihre bigotte Herrin vor der Katastrophe sang, an die Gesänge während einer feministischen Kundgebung und vor allem an die Popularmusik ihrer Jugend.
Karl Traugott Goldbach studierte Komposition und elektroakustische Komposition an der Hochschule für Musik Weimar, wo er auch in Musikwissenschaft promovierte (Nebenfächer Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Kirchengeschichte). Er studierte außerdem Bibliothekswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Kulturmanagement an der TU Kaiserslautern. Seit 2008 ist er Leiter des Spohr Museums in Kassel, wo er unter anderem Louis Spohrs Korrespondenz unter www.spohr-briefe.de ediert.
16.00 Uhr Pause
16.15 Uhr Elizaveta Willert, Paderborn: Wirklichkeit und Utopie im DDR-Kinderhörspiel: Die Suche nach positivem Heldentum und dessen Klang in funkdramatischen Kompositionen von Ruth Zechlin, Tilo Medek und André Asriel
Das Hörspiel, im Geist des Technischen und Politischen geboren, war stets ein politisches Medium. Aber kann es auch als Utopie, als imaginierter Raum, wahrgenommen werden? In der westdeutschen Literatur der 1960er und 70er Jahre wurde das Hörspiel als „Illusionsspiel“ interpretiert, was sich in den ästhetischen Theorien der DDR-Funkphilosophie widerspiegelte. Die DDR entwickelte eine eigene Utopie des dem Sozialismus dienenden realistischen Problemhörspiels. Dieses Genre sollte die Fantasie der Zuhörer anregen und den mitdenkenden Menschen fördern, besonders in Funkkompositionen für Kinder, die als „Träger der Zukunft“ galten. Dokumente aus dem Deutschen Rundfunkarchiv Babelsberg zeigen, dass die Musik im Kinderhörspiel ein intensiv diskutiertes Forschungsobjekt war. Der Vortrag beleuchtet theoretische Auseinandersetzungen zur Wirklichkeitsdarstellung im DDR-Kinderhörspiel anhand dreier Produktionen: Ruth Zechlins „Reineke Fuchs“ (1962), Tilo Medeks „Die betrunkene Sonne“ (1963) und André Asriels „Hosenmaschine“ (1962-1963). Die Untersuchung fokussiert sich auf das musikalische Material, den O-Ton, die Dramaturgie der Stimmen und die musikalische Begleitung.
Elizaveta Willert, geboren 1993 in Tomsk, studierte Chorleitung und Musikwissenschaft in Tomsk, Wien und Berlin und leitete internationale Laienchöre mit dem Schwerpunkt Empowerment. 2016-2017 war sie Forschungsassistentin an der MDW. Seit 2017 ist sie aktives Mitglied des Dachverbandes der Studierenden der Musikwissenschaft und koordinierte dabei verschiedene Projekte. 2019 gründete sie das „Netzwerk Musikwissenschaft und Familie“. Seit ihrem Masterabschluss 2021 an der Humboldt-Universität zu Berlin forscht sie an der Universität Paderborn zu Musik im DDR-Kinderhörspiel. Seit Januar 2022 arbeitet sie im Team des Netzwerks Junge Ohren.
17.00 Uhr Anne Hameister, Hamburg: Harmonie und Utopie – Zukunftsvorstellungen in der Harmonielehre um 1900
Harmonie und Utopie – Zukunftsvorstellungen in der Harmonielehre um 1900
Beide Konzepte – Harmonie und Utopie – treffen sich in der Vorstellung eines erwünschten Zustands. ‚Zukunft‘ hingegen entsteht durch etwas Widerständiges in einer Gegenwart. Harmonielehre als spekulative, deskriptive oder normative Auseinandersetzung mit kulturell kontextualisierten Gefügen kann insofern eine utopische Affordanz zugesprochen werden. So entstehen um 1900 anhand der Frage, ob jeder Akkord jedem folgen könne, musiktheoretische Möglichkeitsräume, deren Vorstellungen sich historisch nicht unbedingt erfüllt haben mögen, die aber als Ausdruck der Spannung einer Zeit auf eine solche Zukunft hin ein historisches Potential enthalten. Der Fokus des Vortrags liegt auf der deutschsprachen Harmonielehre-Sphäre zwischen Neudeutscher Schule und Neuer Musik, in der Zusammenklänge innerhalb und außerhalb von Raum und Zeit verortet werden.
Harmony and Utopia – Ideas about the Future in Harmonielehre around 1900
Both concepts - harmony and utopia - meet in the idea of a desired state. The 'future', on the other hand, emerges from something resistant in the present. In this respect, harmony theory as a speculative, descriptive or normative engagement with culturally contextualized structures can be said to have a utopian affordance. For example, in the German-language debate on harmony around 1900, the question of whether every chord could follow every other chord gave rise to music-theoretical possibilities whose ideas were not necessarily fulfilled historically, but which nevertheless contain a historical potential as an expression of a time's tension towards such a future. The lecture will focus on the sphere between the New German School and New Music, where sounds are located within and outside of space and time.
Anne Hameister, geb. 1990, lehrt die Fächer Musiktheorie und Gehörbildung an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Sie studierte Musiktheorie sowie Deutsch und Schulmusik in Rostock und mit Aufenthalten an der University of Chicago und der Harvard University. Ihre Dissertation entsteht zu Zukunftsvorstellungen in der deutschsprachigen Harmonielehre um 1900. Zusammen mit Jan Philipp Sprick veröffentlichte sie zuletzt den Band Musiktheorie und Zukunft. Perspektiven einer polyphonen Musikgeschichte (Transcript 2023).
Anne Hameister, born in 1990, teaches music theory and ear training at the Hochschule für Musik und Theater Hamburg. She studied music theory, music and German in Rostock, Germany and at the University of Chicago and Harvard University. She wrote her doctoral dissertation on ideas about the future in German-language harmony around 1900 and, together with Jan Philipp Sprick, recently published Musiktheorie und Zukunft. Perspektiven einer polyphonen Musikgeschichte (Transcript 2023).
17.45 Uhr Ende
Ab ca. 19.30 Uhr Abschlusskonzert - Utopie - Dystopie
Maximilian Marcoll und Jörn Arnecke