Franz Liszt: Missa choralis
Neben Anton Bruckners Messen gehört sie zu den wichtigsten Messkompositionen des späten 19. Jahrhunderts. Die „Missa choralis“ ist eine von fünf Messen Franz Liszts und entstand 1865 in Rom. Sie ist für die Besetzung mit gemischtem Chor und Orgel ausgelegt. Die vorliegende Aufnahme dieses Werkes entstand bei einer Aufführung am 23. Oktober 1956 im Rahmen der Festwoche zur Namensgebung der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar. Als Aufführungsort diente damals die Herderkirche zu Weimar. Unter der Leitung von Professor Doktor Albrecht Klauß erklangen der Hochschulchor und Gesangsstudenten der Hochschule sowie Nationalpreisträger Professor Johannes-Ernst Köhler an der Orgel. Dem Werk vorangestellt ist ein Fragment der Fantasie und Fuge über den Choral „Ad nos, ad salutarem undam“, interpretiert von Klaus Creutzburg an der Orgel.
Der Komposition der „Missa choralis“ ging seit 1860 eine intensive Auseinandersetzung des Komponisten mit kirchenmusikalischen und liturgischen Fragen voraus, wobei der Choral eine große Rolle spielte. Im Zuge dessen empfing Liszt im Jahr der Uraufführung auch die niedere Weihe, was sehr deutlich zeigt, wie ernst er es mit dem Glauben nahm. Außerdem trieb Liszt in dieser Zeit seine kirchenmusikalischen Reformpläne voran, die ebenfalls einen Bezug zum gregorianischen Choral herstellen: Wenn es nach Liszt gegangen wäre, wäre das Kirchengesangbuch auf den Gregorianischen Choral festgelegt worden und die Orgel würde als ausschließliches Kircheninstrument gelten. Dazu kam es jedoch nie.
Die gesamte Auseinandersetzung fand schließlich in seiner Messe Anklang. Der schon im Werkname ersichtliche Verweis auf den Choral ist in der Messe sowohl melodisch, als auch zum Teil tonal nachempfunden. So lassen sich beispielsweise Zitate zweier Gregorianischer Choräle („Pueri Hebraeorum“/ „Ait Latro sowie das Credo in unum Deum“) finden. Liszt ergänzt die alten Gattungen jedoch auch um expressive und chromatische Mittel, welche vor allem im „Qui Tollis“ und „Miserere“ des Glorias sowie im „Crucifixus“ und „Agnus Dei“ zu finden sind. Gleichzeitig ist der cäcilianistische Grundgedanke unverkennbar. Der Orgelsatz ist wenig selbstständig und beschränkt sich, bis auf wenige Ausnahmen, auf die Substanz des Vokalsatzes. Auffällig ist die Zurückhaltung des Orgelsatzes besonders am Ende des Glorias, wo das letzte ,Amen’ a capella erklingt, anstatt von der Orgel bekräftigt zu werden. Nicht nur an dieser Stelle wird durch entsprechende Zurückhaltung in der Setzung eine anti-pathetische Wirkung erzeugt, die vor allem durch ihre Schlichtheit zu bestechen weiß.
Generell ist für die Messe der Wechsel zwischen a capella und begleiteten Passagen bezeichnend. Unter anderem dadurch hat die Messe einen professionellen Anspruch, der den Interpreten neben einer hohen Exaktheit einen großen Ambitus und Lautstärkeumfang abverlangt. Auch wenn Liszt die Anforderungen an die insgesamt sechs Solisten im Hinblick auf die kirchenmusikalische Aufführungspraxis bewusst moderat hielt, war es äußerst vorteilhaft, dass in der Aufführung zur Namensgebung auf Gesangsstudenten der Hochschule zurückgegriffen werden konnte.
Die „Missa choralis“ gilt heute mit ihrer Synthese aus Gregorianischem Choral, Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts und modernen Ausdrucksmitteln als aufführungspraktisch prestigeträchtige Messe. Gerade die moderne Ausdrucksweise, für manche zu modern, sollte dem Werk jedoch zum Verhängnis werden. Der Habsburger Cäcilianismus, der eigentlich ähnliche Interessen wie Liszt verfolgte, sowie der Klerus kritisierten den dramatischen Ausdruck als grenzüberschreitend und für kirchliche Zwecke ungeeignet. Das führte dazu, dass die Messe nach Liszts Tod für über 30 Jahre aus dem Kanon verschwand. Erst seit 1910 wurde sie wieder populärer und häufiger gespielt, bevor sie Ende der 1920er Jahre vollständig rehabilitierte.
Lorenz Kestler