Franz Liszt: Études d’exécution transcendante

Etüde Nr. 4 „Mazeppa“ in D-Moll

Franz Liszt (1811–1886) war eine der wichtigsten musikalischen Figuren in der Romantik. Er war nicht nur als Komponist, der ständig neue Methoden entwickelt hat, bekannt, sondern auch als Pianist, der entscheidend die Klaviertechnik seiner Zeit erweitert hat.

„Mazeppa“ ist die vierte Klavieretüde in seinem Zyklus „Études d’exécution transcendante“ (S139). Dieser Zyklus wurde dreimal vom Komponisten bearbeitet. Eine erste Fassung entstand 1826 als „Étude en douze exercises“ (S136), eine zweite Fassung 1837 als „Douze Grand Études“ (S137), die technisch weitaus schwieriger als die erste ist, und die letzte Fassung mit besagtem Titel 1852, publiziert von Breitkopf & Härtel (Leipzig).1 In dieser dritten Fassung brachte Liszt einige klaviertechnische Vereinfachungen und stilistische Verbesserungen an. Die letzte Fassung von „Mazeppa“ könnte aber ausnahmsweise als die schwierigste Version gesehen werden, mit vielen neuen Handüberkreuzungen und einer neuen Coda. Liszt erklärte die zwei früheren Versionen für ungültig. In der vorliegenden Aufnahme von Gunda Köhler-Scharlach, ehemalige Professorin für Klavier an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar, ist die dritte Version zu hören. Die Etüden enthalten eine Widmung an Liszts früheren Lehrer Carl Czerny.

Liszt lebte im Zeitalter einer Lesekultur und stellte immer wieder Bezüge zu literarischen Werken in seinen musikalischen Werken her.2 Die vierte Etüde folgt der literarischen Vorlage des dramatischen Gedichtes „Mazeppa“ von Lord Byron. In dem Gedicht wird der legendäre Held nach einer illegitimen Liebesbeziehung auf ein Pferd gebunden, wonach das Pferd in die Steppe gejagt wird und letztendlich an Erschöpfung stirbt; Mazeppa wird aber von Kosaken gerettet und von ihnen später zum Herrscher gewählt.3 Die Etüde endet mit einem Zitat aus dem gleichnamigen Gedicht Victor Hugos von 1828: „Il tombe enfin! … et se relève Roi“ („Endlich stürzt er hin! … und steht als König wieder auf“). Liszt bearbeitete das musikalische Material dieser Etüde weiter für Orchester; 1854 wurde „Mazeppa“ als seine Symphonische Dichtung Nr. 6 in Weimar uraufgeführt.

Die Etüde fängt mit scharf abgerissenen Akkorden an, bei denen man an Peitschenschläge denken könnte, und einer kurzen Kadenz ad libitum, die man tonmalerisch als eine Art Staubwolke auffassen könnte. Der Hauptteil des Stückes wird danach durch die Hauptmelodie eingeleitet und besteht aus 6 Strophen, die paarweise zusammengefasst sind; diese Paare werden jedes Mal durch Oktavpassagen getrennt. In den Strophenpaaren 1/2 und 3/4 wird die Melodie von Terzen in der Mittellage der Tastatur begleitet, die den aufschlagenden Hufen des Pferdes zu entsprechen scheinen. Am Ende kommt diese Bewegung in der Coda zum Stehen und bricht zusammen mit klagenden Motiven, wonach die Tonart von D-Moll nach D-Dur wechselt und die letzte Zeile des Gedichts durch eine Art Fanfare ausgedrückt wird. Obwohl die Etüde bestimmt als virtuos betrachtet werden kann, waren Virtuosität und Poesie für Liszt kein Widerspruch, sondern Virtuosität war eher ein legitimes Stilmittel des Poetischen.4

Louis Fourie


1 Vgl. Alan Walker, „Liszt, Franz“, in: Grove Music Online (2001), <https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.48265> 24.06.2021.
2 Vgl. Detlef Altenburg, „Liszt, Franz“, in: MGG Online (2016), <https://www.mgg-online.com/mgg/stable/28435> 24.06.2021.
3 Vgl. Albert Brussee, „Franz Liszt's Mazeppa Sketch in His Sketchbook N6“, in Studia Musicologia Vol 55 (2014), S. 27–42, <www.jstor.org/stable/24898480> 24.06.2021.
4 Vgl. Altenburg, „Liszt, Franz“ (wie Anm. 2).