Lebendiger Organismus

Martin Sturm ist neuer Professor für Orgel und Orgelimprovisation

Eine weltweite Konzerttätigkeit als Interpret und Improvisator führte Martin Sturm bereits zu bedeutenden Festivals, in Kathedralkirchen und Konzerthäuser sowie an namhafte historische Instrumente. Auch als Komponist machte er von sich reden. Hier spricht er über seinen Werdegang und seine Pläne.

Prof. Sturm, wie schätzen Sie die Studien- und Lehrbedingungen in Weimar ein?

Kaum ein Hochschulstandort ist so ideal geschaffen für die Kirchenmusik- und Orgelausbildung wie Weimar. Umgeben von einer einzigartigen Orgellandschaft, welche viele der bedeutendsten Orte und Instrumente der (Kirchen-)Musikgeschichte beherbergt, wird in Weimar das künstlerische Erbe vergangener Generationen tagtäglich hautnah nachvollziehbar.

Die künstlerische Konsequenz aus dem Erbe von Komponisten wie Bach und Liszt ist es, auf Basis der Geschichte echte Wege in die Zukunft zu denken. Diesen großen Schatz gilt es gerade in der Kirchenmusik- und Orgelausbildung noch deutlicher zu profilieren und im internationalen Kontext umfangreich zu vermitteln.

Weimar war immer eine ganz besondere Heimat der Orgel- und Kirchenmusik und ist deshalb auch für deren Zukunft von größter Relevanz. Die neuen Hochschulorgeln zeigen dies in besonderer Weise: Die aus diesem Geist entstandenen Instrumente sind vollkommen einzigartig und suchen ihresgleichen.

Besonders glücklich macht mich die Offenheit der Kolleginnen, Kollegen und Studierenden zu interdisziplinären Projekten. So kann die Vision von einer komplexen, multiperspektivischen Herangehensweise an Kunst wirklich gelingen.


Welche Schwerpunkte setzen Sie in Ihrem Unterricht?

Schon im Kindesalter entspringt jede musikalische Äußerung ein- und derselben inneren Motivation. Sei es ein vokaler Laut, das Ausprobieren eines Instrumentes, das Imitieren von Natur und Umweltgeräuschen – immer ist es die Neugier und der immanente Drang nach Ausdruck, welche Menschen zur Kunst führt.

So müssen auch Interpretation und Improvisation aus der gleichen Motivation heraus geschehen. Wie die Auseinandersetzung mit notierten Werken sukzessive das eigene künstlerische Denken prägt und erweitert, so vermittelt die Improvisation das Geschehen von Musik im „Jetzt“.

Ein geschriebenes Werk kann so zur persönlichen Mitteilung, zu einer Art Improvisation werden, während eine Improvisation dadurch den Anspruch einer Komposition innerhalb der Zeit erhebt. Gerade die dadurch entstehende Kraft und Unmittelbarkeit des musikalischen Geschehens und das Wissen um diese Erfahrung erfährt nochmals besondere Relevanz im Berufsalltag des Kirchenmusikers.

Denn genau dort kommen Menschen aller Altersgruppen und in den verschiedensten Lebenssituationen zusammen, um sich gemeinsam mit den Mitteln der Musik ganz direkt und individuell zu äußern.

Um diesen Raum zu verstehen und zu schaffen, müssen meines Erachtens gerade auch die Neue Musik sowie der Jazz elementare Bestandteile der Kirchenmusik- und der Orgelausbildung sein.


Was sind Ihre Pläne für die kommenden Semester?

Einen wichtigen Schwerpunkt wird die Auseinandersetzung mit bedeutenden historischen Instrumenten der Region bilden, ergänzt durch weitere historische Pedalinstrumente wie Pedalclavichord oder Pedalklavier. Ein besonderes Herzensanliegen ist es mir, mit der Einführung der wöchentlichen Veranstaltung „Experimentalstudio Orgel“ alle Hochschulmitglieder zur Auseinandersetzung mit der Orgel einzuladen.

Hier sollen Organisten und Kirchenmusiker gemeinsam mit Komponisten, Schulmusikern, Jazzern und vielen anderen direkt am Instrument vollkommen frei testen und experimentieren können, um so gemeinsam neue Visionen (nicht nur) für die Orgel- und Kirchenmusik zu schaffen.


Was waren Ihre prägendsten Erfahrungen – sowohl künstlerisch als auch persönlich?

Seitdem ich als kleines Kind jeden Sonntag neben meinem Vater auf der Orgelbank sitzend den Klängen lauschte, hat mich die Faszination Orgel nicht mehr losgelassen. Es kam mir so vor, als würde ich für alles, was ich je sagen wollte, die passende Klangfarbe in diesem unerschöpflichen Instrument finden können.

Gerade zur Gymnasialzeit war es dann die Beschäftigung mit Theologie und Philosophie sowie mit Komponisten und Künstlern wie Bernd Alois Zimmermann, Joseph Beuys oder Christoph Schlingensief, die mich nachhaltig beeinflusste. Meine Studien bei Prof. Christoph Bossert (HfM Würzburg) sowie später bei Prof. Martin Schmeding und Prof. Thomas Lennartz (HMT Leipzig) eröffneten mir wahre Universen.


Und was ist das Schöne an der Orgel?

Die Orgel vereint in sich eine unbegrenzte Anzahl von Klangfarben der vergangenen Jahrhunderte und wird zur Brücke zur Innenwelt der Menschen vergangener Zeiten.

Aber damit nicht genug: Sie trägt ebenso eine Vielzahl an Naturgeräuschen und Klangmetaphern in sich. Es scheint geradezu so, als würde das Instrument Orgel alle menschlichen Hörerfahrung in sich vereinen wollen, um diese zu musikalischem Material zu transzendieren.

Gleichzeitig funktioniert sie wie ein großer lebendiger Organismus, durch den Wind strömt, welcher tausende von individuellen Pfeifen zum gemeinsamen Erklingen bringt – was für eine wunderbare Metapher, die kein Synthesizer dieser Welt leisten könnte.

Die Orgel hatte immer eine zentrale Rolle in der Gesellschaft. Noch heute spricht man in den Gemeinden von „unserer“ Orgel.

Sie ist das Instrument, das jeden Sonntag Musik in unerhörten Dimensionen bietet, von der Taufe bis zur Beerdigung jede Station menschlichen Lebens begleitet und gleichzeitig über die menschliche Existenz hinausweist.

Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Ina Schwanse


[Oktober 2019]

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