Jüdische Kulturbünde im NS-Deutschland

Der Ausschluss der „nichtarischen“ Künstler aus dem deutschen Musikbetrieb fand bereits in den ersten Wochen nach der Machtergreifung der Nazis statt. Die juristische Basis dafür wurde von dem berühmt-berüchtigten Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 geliefert, das nicht nur auf Beamte, sondern gleichermaßen auch auf Angestellte angewandt wurde. Das Gesetz legitimierte eine bereits bestehende Praxis. Gleich nach dem 30. Januar waren jüdische Kulturschaffende in spontanen Einzelaktionen mit Auftrittsverboten belegt worden, ab dem 1. April, dem antijüdischen Boykott-Tag, dann flächendeckend.

Nur wenige von den Hunderten arbeitslos gewordenen jüdischen Kulturschaffenden waren imstande, das Land sofort zu verlassen, für die meisten wurde der am 15. Juli 1933 gegründete Jüdische Kulturbund zu einer neuen künstlerischen Heimat. Diese Organisation wurde zunächst in Berlin als „Kulturbund Deutscher Juden“ zugelassen, wenig später entstanden ihre Pendants in vielen anderen Städten. 1935 gab es mindestens 36 lokale Kulturbünde mit etwa 70.000 registrierten Mitgliedern. Im August 1935 wurden die jüdischen Kulturbünde gezwungen, einem Reichsverband jüdischer Kulturbünde in Deutschland (RJK) beizutreten.

„Es war eine Ironie der Musikgeschichte, dass die erste organisatorische Tat auf dem Gebiet der Tonkunst im ‚Dritten Reich’ nicht die Gründung der RMK [Reichsmusikkammer] war, sondern die Schaffung eines ‚Kulturbundes deutscher Juden’.“ (Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt 1982, S. 79)

Der Reichsverband jüdischer Kulturbünde wirkte – mit einer Unterbrechung nach der „Reichspogromnacht“ – noch bis zum 11. September 1941, als er durch die Berliner Gestapo endgültig verboten und aufgelöst wurde.

Gründung und programmatische Ausrichtung

Der Jüdische Kulturbund war sicherlich ein „Ghettounternehmen“ (nach einem Ausdruck von Julius Bab, 1880–1955, Dramatiker und Theaterkritiker, Mitbegründer des Jüdischen Kulturbundes, dessen Theaterressort er leitete). Die manchmal verwendete Bezeichnung „Selbsthilfeunternehmen“ ist weniger zutreffend, weil der Kulturbund nicht von den notleidenden jüdischen Kulturschaffenden, sondern von einflussreichen jüdischen Persönlichkeiten mit Sanktion des NS-Staates geschaffen wurde. Eine Art „Selbsthilfe“ bedeutete der Jüdische Kulturbund für die gesamte deutsch-jüdische Gemeinschaft als eine Möglichkeit, ihre bedrohte Identität unter den neuen Bedingungen zu retten und weiterzuentwickeln.

„Für die deutschjüdische Kultur also ist seinem Namen nach dieser Bund gegründet worden, und zwar nicht als Verein, nicht als Gesellschaft, sondern eben als Bund. ‚Bund’, das bedeutet, dass die Menschen, die dazu gehören, nicht durch ein Interesse, nicht durch einen Zweck allein, sondern lebensmäßig und unmittelbar miteinander verbunden sind.“

(Martin Buber, Name verpflichtet, in: Kulturbund Deutscher Juden. Monatsblätter, Nr. 1, Oktober 1933, S. 2)

Kurt Singer (1885–1944) stammte aus der Familie eines Rabbiners. Er studierte Medizin und Musikwissenschaft und arbeitete zunächst als Neurologe an der Berliner Charité. 1913 (nach anderen Angaben 1912) gründete er den Berliner Ärztechor, den er dann 25 Jahre lang leitete (ab 1933 war der Chor, dessen Mitglieder größtenteils jüdisch waren, im Rahmen des Jüdischen Kulturbundes weiterhin unter dem Namen „Kurt Singerscher Chor“ aktiv). Seit 1923 unterrichtete er an der Berliner Hochschule für Musik. 1927 wurde er zum stellvertretenden Intendanten der Städtischen Oper Berlin-Charlottenburg (unter Heinz Tietjen), später auch zum Intendanten dieses Opernhauses berufen, außerdem trat er als Opernregisseur in Erscheinung. Singer wurde bereits im Herbst 1932 aus der Musikhochschule entlassen. Er war die treibende Kraft bei der Gründung des Berliner Jüdischen Kulturbundes, dessen Leiter er wurde. Ab 1935 stand er an der Spitze des neugegründeten Reichsverbandes der Jüdischen Kulturbünde. 1938 versuchte Singer erfolglos, den gesamten Jüdischen Kulturbund in die USA zu transferieren. Ab Herbst 1938 lebte er in den Niederlanden. Singer wurde im April 1943 nach Theresienstadt deportiert und starb dort im Februar 1944 an Entkräftung und Lungenentzündung. Das 2002 an der Berliner Universität der Künste errichtete Institut für Musikergesundheit wurde nach Kurt Singer benannt.

Die gesamte Tätigkeit der jüdischen Kulturbünde wurde vom Staatskommissar und „Reichskulturwalter“ Hans Hinkel (1901–1960) überwacht. Die Veranstaltungen mussten einzeln von seiner Behörde, die ab 1935 Teil des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda wurde, genehmigt werden. Hans Hinkel, der maßgeblich für die NS-Kulturpolitik verantwortlich war, wurde nach dem Krieg wegen seiner Verwicklung in den Raub polnischer Kulturgüter nach Polen überstellt. Nach seiner Abschiebung aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland 1952 wurde Hinkel nie mehr für seine Taten zur Verantwortung gezogen.

Die programmatische Einstellung des Kulturbundes knüpfte zunächst nahtlos an die deutsch-jüdische transkulturelle Identität der vorangegangenen Zeit an. Seine Tätigkeit sollte durch das „Bekenntnis zum Judentum [geprägt werden], gesteigert durch das Bewusstsein, deutschem Kulturgut der Jahrhunderte verhaftet und verbunden zu sein. Das Wort der Bibel, das Ethos der Propheten, die Weisheit talmudischer und rabbinischer Glaubenskünder ist uns so in Blut und Seele gesenkt, wie uns die Welt Kants und Humboldts, Goethes und Beethovens zu eigen wurde,“
(Kurt Singer, Fanget an, in: Kulturbund Deutscher Juden. Monatsblätter, Nr. 1, Oktober 1933, S. 1)

Das Selbstverständliche des Jüdischen sollte und konnte also in keinem Widerspruch zu der sich seit der Emanzipation herausgebildeten organischen Verbundenheit mit dem Deutschen stehen. In der Zeit, als die Juden aus der deutschen Kultur ausgeschlossen wurden, erschien es dem Philosophen und kulturzionistischen Aktivisten Martin Buber aber besonders wichtig, gerade die deutsche Komponente zu pflegen, um die einzigartige Kultur des deutschen Judentums in ihrer Einheit zu erhalten: „Die Gemeinschaft, um deren Gemeinsames es hier geht, ist die der ‚deutschen Juden’, die deutschjüdische. Damit sie ihre Kultur bewähre, braucht selbstverständlich nicht nach jüdischen Stoffen und Motiven gefahndet zu werden: wie ihr das Andere zu eigen, zu Eigentümlichem wird, gerade das ist entscheidend.“
(Martin Buber, Name verpflichtet, in: Kulturbund Deutscher Juden. Monatsblätter, Nr. 1, Oktober 1933, S. 2)

Über die konkrete Ausrichtung der jüdischen Kulturarbeit gab es zunächst kontroverse Meinungen. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht eine Diskussion, die im Sommer 1933 auf den Seiten der zionistischen Zeitung „Jüdischen Rundschau“ geführt wurde. Sie wurde mit einem Artikel „Kulturghetto?“ von Moritz Goldstein eröffnet. Der Autor warnte den neugegründeten Jüdischen Kulturbund vor einer Selbstisolierung in einer Art Kulturghetto. Seiner Meinung nach wäre die einzige Antwort auf den gewaltsamen Ausschluss der Juden aus der deutschen Kulturgemeinschaft nur das Festhalten an ihrer Identität – unter der Voraussetzung, dass es in Deutschland ein jüdisches Leben überhaupt geben würde: „Sollte sich herausstellen, dass wir in Deutschland keine Lebensmöglichkeit finden, so brauchten wir uns nicht den Kopf zu zerbrechen, in welcher Form wir leben wollen.“ Dieses pessimistische Szenario wollte der Autor jedoch nicht ernsthaft in Betracht ziehen. Das schlimmste, was er sich vorstellen konnte, wäre damals schon passiert, das war der Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen Leben. „Es bleibt den deutschen Juden, wenn sie auf sich selbst angewiesen sind, nichts anderes übrig, als weiterzutreiben, was sie schon immer getrieben haben. Vielleicht wird der jüdische Stoff mehr in den Vordergrund treten; unbenutzt ist dieser Stoff ja nie gewesen. Vielleicht wird auch die weitverbreitete Unwissenheit in jüdischen Dingen von einem gründlicheren Wissen abgelöst werden; unbekannt, unerforscht, ungeschrieben ist auch dieses Wissen nie gewesen. Aber ein Kulturghetto werden wir hier nicht aufrichten können, auch wenn wir Grund haben sollten, es aufrichten zu wollen.“

Solche Ansichten wurden zu dieser Zeit wohl nicht nur von der Mehrheit der deutschen Juden geteilt, sondern auch von den Initiatoren des Kulturbundes, dessen Programme und Repertoirepolitik in den ersten Monaten eine weitgehende Kontinuität mit dem deutsch-jüdischen Kulturleben vor 1933 aufwiesen. In den folgenden Jahren sollte sich dieses Bild unter dem Einfluss von bedeutenden Umwandlungen im Selbstbewusstsein des deutschen Judentums wesentlich ändern. Die Richtung dieses Prozesses wurde bereits in dem redaktionellen Kommentar zu dem gerade zitierten Artikel von Goldstein angedeutet: „Durch klares Bekenntnis zum Judentum und durch das Bewusstsein der Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft soll dem Juden eine innerlich freie Beziehung zu den großen Werken der Menschheitskultur ermöglicht werden, ohne die Befangenheit des Assimilantentums und ungerechtfertigte nationale Überhebung. Wenn Dr. Goldstein in seinem Aufsatz die Parole ‚Weitertreiben’ aufstellt, so glauben wir, eine kleine Einschränkung hinzufügen zu müssen: Nach dem, was geschehen ist, müssen Juden, wenn sie ihre kulturelle Betätigung, wie bisher, weitertreiben, dies mit einem höheren Grad der Verantwortung [im Original gesperrt] gegenüber ihrem Judentum tun als bisher.“ Je mehr die deutschen Juden aus dem deutschen Leben ausgegrenzt und zu „nur Juden“ abgestempelt wurden, desto wichtiger wurde die Bedeutung der jüdischen Kultur, die unter diesen Bedingungen sinngebend und identitätsstiftend wirkte. Sich nicht nur als passive Objekte der Verfolgung und Ausgrenzung zu fühlen, sondern die eigene Kultur selbst aktiv zu gestalten – das war die eigentliche „Selbsthilfe“, die der Jüdische Kulturbund leistete. Das deutsche Judentum „spürt die Ausgliederung aus dem deutschen Leben zwar schmerzlich genug, weil sie durch einen jahrhundertelangen Prozess in dieses Leben einbezogen wird, als dass eine neue Einordnung sofort möglich wäre, aber sie empfindet ihr Judesein nicht als eine Diskriminierung [im Original gesperrt], sondern als echtes, trotz aller Schwierigkeiten bejahtes Schicksal,“ schrieb ein Frankfurter zionistischer Aktivist, Josef Horowitz, in seinem Diskussionsbeitrag zum Artikel von Goldstein. Das Hauptproblem bestand laut Horowitz darin, dass sich viele deutsche Juden mit der Position eines „Trotzjudentums“ begnügten. „Sie wollen als bewusste, stolze und gerade Juden leben, sie sehen aber noch nicht, dass dies heute nur mit ganz neuen und eigenartigen Perspektiven möglich ist.“ Für solche Menschen sollte ihr Judentum mit neuem Sinn, mit tieferem Inhalt gefüllt werden. Dies setze eine „neue kulturelle Orientierung“ [im Original gesperrt] voraus.

Welche Orientierung sollte das sein? Zu Beginn der Rassenverfolgung wurde das deutsche Judentum im Wesentlichen von zwei Richtungen dominiert. Beide waren ursprünglich genetisch mit der Haskala-Bewegung verbunden, beide entstanden als Antwort auf den „neuen“ Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sie vertraten aber grundsätzlich verschiedene Lösungen der jüdischen Frage. Der zahlenmäßig überlegene, durch den „Central-Verein“ repräsentierte Teil der deutschen Juden hegte bis zum Ausbruch der Nazi-Zeit die Hoffnung auf eine komplette Integration in die deutsche Gesellschaft. Die Zionisten, die sich in der „Zionistischen Vereinigung für Deutschland“ (ZVfD) organisierten, hielten die Gründung eines jüdischen Staates für das einzig wirksame Mittel im Kampf gegen den Antisemitismus.

Konnte sich vor der Machtergreifung Hitlers nur eine Minderheit der deutschen Juden mit zionistischen Zielen und Ideen identifizieren, so wurde der Zionismus für viele von ihnen schon kurz danach zu einem Hoffnungsschimmer angesichts der schnell wachsenden existenziellen Bedrohung. Diese ideologische Umwandlung begann spätestens im April 1933, als in der „Jüdische Rundschau“ der berühmte Leitartikel ihres Chefredakteurs, Robert Weltsch, erschien. „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!“ lautete der Titel dieses Artikels, der als Reaktion auf den antisemitischen Boykott am 1. April verfasst wurde. Die Zeitung rief die Juden auf, sich endlich zu ihrer nationalen Identität zu bekennen. Der Appell richtete sich in erster Linie an jene Juden, die noch einige Monate zuvor gehofft hatten, ihr Judentum und ihr Deutschtum innerhalb der deutschen Gemeinschaft vereinigen zu können.

„Da der Nationalsozialismus sie so brutal von sich stieß, so erlebten viele von ihnen eine seelische Erschütterung und Umkehr, die sie für das Bekenntnis zu einem erneuten, selbstbewussten Judentum reif machte.“
(Richard Lichtheim, Die Geschichte des deutschen Zionismus, Jerusalem 1954, S. 256)

In dem Maße, in dem die Juden in Deutschland isoliert und ausgestoßen wurden, schwanden auch die Unterschiede zwischen den ideologischen Lagern im deutschen Judentum. Die bis dahin zerstrittenen jüdischen Vereinigungen konnten bald eine gemeinsame organisatorische Plattform finden, die bereits im September 1933 die Gestalt einer „Reichsvertretung der deutschen Juden“ annahm.

Die Überwindung der Gegensätze zwischen den „deutschen Staatsbürgern jüdischen Glaubens“ und den Zionisten wirkte sich auch auf die Formen der Kulturarbeit aus: „Das Alte Testament, das Volk Israel und die hebräische Sprache wurden mehr und mehr zum gemeinsamen Bezugspunkt [...] Mit jeder neuen antisemitischen Maßnahme der Nationalsozialisten wurde dieser Prozess der Identifikation mit zionistischen Ideen vorangetrieben.“
(Horst J.P. Bergmeier, Ejal Jakob Eisler und Rainer E. Lotz, Vorbei. Dokumentation jüdischen Musiklebens in Berlin 1933–1938, Hambergen 2002, S. 88)

„Verdrängt aus dem deutschen Kulturleben, schufen sich die Verfemten fortan eine eigene kulturelle Identität, orientierten sich an ihr und entwickelten weithin ein geradezu kämpferisches jüdisches Volksbewusstsein – dies in Anlehnung an zionistische Ideen und über viele Grenzen des Herkommens, der sozialen Stellung, des Glaubens und der mehr oder weniger weitgehenden Assimilierung hinweg.“
(Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt am Main 1982, S. 81)

Auch wenn sich die Hoffnung auf einen jüdischen Staat und damit auf eine Massenauswanderung nach Palästina damals noch als illusorisch erwies, konnte ein großer Teil der deutschen Juden in den schließlich eindeutig zionistisch orientierten Kulturbünden bereits einen Vorgeschmack einer nationalen Gemeinschaft erleben, wie sie sich später im Staat Israel endgültig herausbilden sollte.

Die eigentliche Wende zu einer zionistischen Richtung in der Programmpolitik fand im September 1936 statt, als in Berlin eine „Kulturtagung“ des Reichsverbandes der jüdischen Kulturbünde in Deutschland organisiert wurde. Diese Tagung bestätigte eine grundlegende Umgestaltung des Kulturbundes auf allen Gebieten. Ihre Beschlüsse nahmen im wesentlich die alten zionistischen Forderungen an die jüdische Kulturarbeit auf. Daher genoss der Kulturbund fortan eine uneingeschränkte Unterstützung der zionistischen Organisation. Ihre Zeitung „Jüdische Rundschau“ registrierte mit Genugtuung: „Drei Jahre innerjüdischer Entwicklung haben die Verhältnisse grundlegend geändert. Der Kulturbund ist sich seiner verantwortlichen jüdischen Aufgabe bewusst geworden. [...] Daher rufen wir heute die Zionisten auf, sich dem Kulturbund anzuschließen.“
(Für den Jüdischen Kulturbund [Aufruf der Zionistischen Vereinigung in Deutschland], in: Jüdische Rundschau, Nr. 83, 16.10.1936, S. 3)

Bereits in seiner Eröffnungsrede betonte Kurt Singer, dass „auf der Plattform der Kulturbünde Einigkeit herrscht, und dass es keine Differenz gibt zwischen zionistischen und nichtzionistischen Wünschen“. Sein eigenes Bekenntnis zum Zionismus demonstrierte der Redner mit einer Solidaritätsbekundung an die Juden in Palästina: „Wir sehen mit Spannung und Erwartung dem Gang der Ereignisse im Lande unserer Väter entgegen [...] Zum Zeichen der Verbundenheit mit Erez Israel und seinen Menschen, vor allem auch mit den Trägern der jüdischen Kultur in Palästina werde ich [...] Verbundenheitstelegramme an das Hebräische National-Theater HABIMAH, sowie an das jüdische Palästina-Orchester Hubermann senden“. Wie schnell sich das jüdische Publikum seit 1933 veränderte und welche Konsequenzen sich dadurch für die Kulturarbeit ergaben, umriss Singer in seinem Grundsatzreferat: „Einen Kampf um jüdische Kultur zu führen, wäre damals [1933] gleichbedeutend gewesen mit einem Versuch, Beethoven, Mozart, Bruckner [...] aus dem Herzen der Juden zu verbannen.“ Es hätte damals kein Bedürfnis für eine spezifische jüdische Kunst, für einen jüdischen Stil gegeben. „Erst jetzt ist der Jude in Deutschland reif zur Mitgliedschaft im ‚Bund für jüdische Kultur’.“ Das primäre Ziel der Kulturarbeit sei nun die nationale Erziehung: „Ein Weg von hundert Jahren liegt vor uns. Er endet da, wo jüdische Kultur ihren Anfang nehmen muss: in Palästina“.

Palästina war auch das Ziel des Kulturbundes selbst. Im April 1936 reiste der Geschäftsführer Werner Levie nach Tel Aviv, um dort Verhandlungen über die Überführung des gesamten Jüdischen Kulturbundes zu führen. Diese Mission war von Hans Hinkel sanktioniert worden. Die Verhandlungen scheiterten damals zunächst und wurden von Levie im Juni 1938 erneut, dieses Mal mit Erfolg, aufgenommen. Die neuen antijüdischen Maßnahmen der Nazis vereitelten jedoch diese Pläne endgültig.

Es ist schwer genau abzuschätzen, welche unmittelbare oder mittelbare Rolle die Nationalsozialisten bei dieser Umgestaltung spielten. In jedem Fall steht fest, dass sie den Kulturbund als Vermittler der nationalsozialistischen Politik zu instrumentalisieren versuchten. Diese Politik stellte sich zunächst zum Ziel, die Vernichtung der jüdischen Existenz in Deutschland durch Auswanderung zu erreichen. In den Augen der Nazis waren die Zionisten naturgemäß gerade diejenige Gruppe, die die angestrebte totale Emigration der Juden am besten und am schnellsten organisieren könnte. Auf dieser Grundlage ergab sich für einige Jahre eine Situation, in der die Nazis die zionistische Richtung unter den deutschen Juden bevorzugt behandelten.

Ab 1933 gewannen die Zionisten allmählich leitende Positionen in den meisten jüdischen Gemeinden und anderen Organisationen. Dieser Prozess entsprach nicht nur der veränderten ideologischen Orientierung der Mehrheit der deutschen Juden, sondern wurde zumindest zum Teil von den Nazis gefördert. Sie versuchten unter anderem auch den Jüdischen Kulturbund entsprechend zu beeinflussen. Am 13. August 1935 wies Reinhard Heydrich die Politischen Polizeien der Länder an, dafür zu sorgen, dass die in Gründung befindlichen örtlichen jüdischen Kulturbünde eine zionistische Leitung erhalten. Der „Reichskulturwalter“ im Propaganda-Ministerium, Hans Hinkel, der nicht nur für die Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Kulturleben, sondern auch für die Tätigkeit des Jüdischen Kulturbundes zuständig war, wurde nicht müde zu betonen, dass man es nun in Deutschland mit dem „Judentum unter zionistischer Führung“ zu tun hätte: „Die Führung dieses Reichsverbandes [...] übernahm die ehemals Berliner Leitung des Jüdischen Kulturbundes, die dem Wunsch großer jüdischer Massen entsprechend mehr und mehr durch sogenannte politische Persönlichkeiten innerhalb der Judenheit ergänzt wurde, nämlich durch maßgebliche Persönlichkeiten der zionistischen Bewegung.“ Im Gemeindeblatt der Berliner Jüdischen Gemeinde wurde er sogar mit der Erklärung zitiert, dass „diesen in Deutschland verbliebenen und größtenteils zionistischen, also völkischen Juden die volle Achtung und Anerkennung der nationalsozialistischen Leitung“ gehöre.

Hinkel drängte die Leitung des Jüdischen Kulturbundes, ihre Programmgestaltung in den Dienst der Auswanderung zu stellen. In einem Interview betonte er ausdrücklich, dass „selbstverständlich diese den Juden für die Juden erlaubte Betätigung im Zeichen der zu fördernden Auswanderung steht, wobei es ebenso selbstverständlich ist, dass jegliche Stimmungsmache für einen künftigen jüdischen ‚Staat’ verboten ist“. Hans Hinkel, sowie der Chef-Ideologe Alfred Rosenberg versuchten auch die konkrete inhaltliche Orientierung der Programme zu bestimmen, indem sie unter anderem einen großen Teil des deutschen (später auch des „eingedeutschten“ österreichischen) Repertoires allmählich verbaten und stattdessen eine „jüdische Kultur“ verlangten. Grund dafür war nicht nur der erklärte Kampf gegen die „Verjudung“ der deutschen Kultur, sondern auch der Wunsch, die deutsche Identität bei den Juden auszutilgen und ihnen statt dessen eine rein jüdische Identität einzupflanzen.

Die Nazis konnten also die inhaltliche Entwicklung der Jüdischen Kulturbünde in Bezug auf allgemein jüdische und speziell zionistische Thematik auf alle Fälle nur begrüßen. Einerseits entsprach sie ihrem strategischen Interesse, die Juden durch Auswanderung (vor allem nach Palästina) loszuwerden, andererseits passte sie in das propagandistische Lügenkonzept eines freien autonomen jüdischen Lebens.

Es darf jedoch auf keinen Fall der falsche Eindruck entstehen, dass diese Umorientierung den jüdischen Kulturschaffenden von außen aufgezwungen worden wäre. Sowieso konnten sich die Nazis mit ihrer Forderung, die jüdischen Veranstaltungen ausschließlich mit jüdischen Themen zu gestalten, nie durchsetzen. Die Vielfältigkeit der Programme des Jüdischen Kulturbundes stellten sie dann als Mangel an eigenem jüdischem Künstlertum dar. Hinkel äußerte höhnisch in der „Frankfurter Zeitung“ dazu: „Behendig und stets im Vordergrund, sobald es sich um Fragen der Kulturwirtschaft handelt, bestreitet der Jude hilflos die Programme seiner eigenen Kulturveranstaltungen mit Schöpfungen aller Art, teils von Juden, die gerade bisher Wert darauf legten, ‚deutsch’ genannt zu werden, teils von Nichtjuden, die zufällig einmal Themen aus der jüdischen Geschichte behandelten. […] Als Anmaßung muss jedoch empfunden werden, wenn bei Vorschlägen bzw. Anträgen zu Veranstaltungen der Judenschaft unter sich Werke von Beethoven, Goethe und Mozart auftauchten: denn es ist nicht der Zweck der Übung, inhaltlich deutsche Kulturbünde mit jüdischen Mitgliedern aufzuziehen. Vielmehr soll dem Judentum Gelegenheit zur Entfaltung in den eigenen geistigen und schöpferischen Grenzen gegeben werden. Sollte diese Entfaltung dem Juden zu dürftig sein, dann wird er es um so besser verstehen, warum wir ihn nicht als Herrn und Meister über unser Kulturleben haben mögen.“ Rosenberg bemängelte zum Beispiel am 6.3.1935 im „Völkischen Beobachter“, dass „der Berliner Kulturbund eine Serie von Aufführungen herausgebracht hat, die mit jüdischen Dingen so gut wie nichts zu tun haben“. Das sei genauso inakzeptabel, wie die Veranstaltung von „den noch so erhebenden und hochkünstlerischen Konzerten, bei denen zwar Juden für Juden wirken, ihnen aber nichts eigentlich Jüdisches vermitteln“.

Wie ein Historiker des Jüdischen Kulturbundes betont, wehrten sich aber „die Zionisten dagegen, dass man die nationalen Juden als Menschen vorstellte, die sämtliche kulturelle Bedürfnisse nur durch jüdische Produkte befriedigen wollten, und dass man glaubte, sich jedes Mal entschuldigen zu müssen, wenn Werke nichtjüdischer Autoren aufgeführt werden.“ (Herbert Freeden, Jüdischer Kulturbund ohne „jüdische“ Kultur, in: Geschlossene Vorstellung. Der Jüdische Kulturbund in Deutschland 1933–1941, S. 64). Die zionistische Vorstellung von der jüdischen Kultur stimmte mit den diesbezüglichen nationalsozialistischen Ansichten – entgegen manchen Darstellungen in der heutigen Literatur – keineswegs überein. Während die Nazis den Juden eine „reine“ jüdische Kultur aufzwingen wollten, strebten die Zionisten das Ideal eines nationalbewussten Judentums an, das sich keineswegs auf das Jüdische beschränkte, sondern der ganzen internationalen Kultur der Menschheit gegenüber offen war. Diese Vision widersprach den völkischen Theorien der Nazis. Dass jüdische Themen bei den jüdischen Veranstaltungen immer mehr Platz einnahmen, war sicherlich auf den Einfluss von zionistisch orientierten Persönlichkeiten in der Leitung des Kulturbundes und in anderen jüdischen Kulturorganisationen, vor allem jedoch auf die fortschreitende „Nationalisierung“ des deutschen Judentums, darunter auch der jüdischen Kulturschaffenden, zurückzuführen. Was die zionistische Leitung der Kulturbünde, die Künstler und das Publikum in jedem Fall wollten und was auch in den Konzerten des Kulturbundes nach Möglichkeiten realisiert wurde, waren ausgewogene Programme, in denen jüdische Thematik in allen ihren Facetten einen bedeutenden Platz einnahm, die sich jedoch nicht ausschließlich darauf begrenzten. Solche Programmgestaltung entsprach den zionistischen Vorstellungen, wurde aber von den Nazis wiederholt kritisiert.

Die Arbeit der Jüdischen Kulturbünde konnte von den Nazis nur durch direkte Staatsgewalt beeinflusst werden – durch Verbote und Schließungen, sowie durch alltägliche Schikanen aller Art. Mit ihrem Versuch, das jüdische kulturelle Leben ideologisch zu instrumentalisieren, sind sie jedoch in mehrfacher Hinsicht gescheitert. Es ist ihnen nicht gelungen, die deutschen Juden von der deutschen Kultur zu trennen: trotz aller Verbote blieb auch das deutsche Repertoire bis 1938 in den Programmen präsent. Ebenso missglückte der Versuch, die jüdischen Veranstaltungen mit ausschließlich jüdischen Inhalten zu füllen. Schließlich war das künstlerische Niveau dieser Veranstaltungen trotz der schwierigen materiellen Lage und der Verluste durch die Abwanderung so hoch, dass das propagandistische Konzept der Minderwertigkeit der „jüdischen Rasse“ auf dem Gebiet der Kunst und Kultur damit einmal mehr Lügen gestraft wurde. Die künstliche Trennung der deutschen Juden von der deutschen Kulturgemeinschaft schadete dieser viel mehr, als sie das jüdische Kulturleben zu beeinträchtigen vermochte. Die Nazis schafften es, das deutsche Judentum als kulturelles Phänomen zu isolieren und ins „Kulturghetto“ zu verbannen, es gelang ihnen aber nicht, dieses einzigartige Phänomen zum Selbstleugnen und Selbstauflösen zu zwingen. Das deutsche Judentum bestand weiter – bis zu seiner physischen Vernichtung. Insofern hat Fred K. Prieberg Recht, wenn er schreibt: „Die Geschichte der Jüdischen Kulturbünde […] markiert eine kulturpolitische Niederlage des Reiches.“
(Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt 1982, S. 78)

Noch bevor es den Nazis direkt um die physische Vernichtung des deutschen Judentums – und den Juden um ihre Rettung – ging, stand dessen geistiges Überleben zur Disposition. Den geistigen Überlebenskampf konnten die Juden gewinnen. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Kulturbund. Bezeichnend ist in diesem Kontext ein Artikel zur Eröffnung der Spielzeit 1938/39, zu der Zeit also, als kaum jemand Illusionen hinsichtlich der Zukunft hatte und die jüdische Gemeinschaft durch Auswanderung und die fortschreitende Verarmung der verbliebenen Mitglieder rapide geschwächt wurde. „Neben der Sorge um Visum darf, ja muss die Sorge um das geistige Selbst stehen, das zwischen den Mühlsteinen des Existenzkampfes und des Ringens um Auswanderung nicht zerrieben werden darf. Gegen dieses seelische Zerriebenwerden, gegen dieses geistige Stumpfwerden hat die Judenheit in Deutschland und in Berlin ein einziges Rüstzeug: den Jüdischen Kulturbund. Wenn noch ein Funke Wille in ihr ist, mit wachem Bewusstsein und lebendiger Empfindung zu leben; […] wenn noch nicht völlig vergessen ist, dass das Judentum eine Tradition der Verpflichtung gegenüber dem Geiste bedeutet – dann muss alles daran gesetzt werden, um die Kulturbünde zu stärken.“
(Zur neuen Spielzeit. Der jüdische Kulturbund an der Arbeit, in: Jüdische Rundschau, Nr. 70, 2.9.1938, S. 1)
 

Jüdische Musik und jüdische Musiker

Die inhaltliche Umgestaltung der Jüdischen Kulturbünde war vielleicht gerade auf dem musikalischen Gebiet besonders anschaulich. Während es etwa im theatralischen Bereich nicht leicht war, geeignete Stücke in deutscher Sprache zu finden (solche Stücke fielen zudem nicht selten der Zensur zum Opfer), gab es ein reichhaltiges und vielfältiges Repertoire an jüdischer Musik. Außerdem konnte der Kulturbund in dieser Hinsicht an die früheren Aktivitäten anknüpfen: seit der Jahrhundertwende hatten in zahlreichen deutschen Städten Konzerte jüdischer Musik stattgefunden. In den 1920er Jahren existierten in Berlin sogar einige jüdische Musikverlage, von denen zwei – „Juwal“ und „Jibneh“ – von Mitgliedern der Neuen Jüdischen Schule gegründet wurden. Als Neue Jüdische Schule wird eine Komponistenvereinigung bezeichnet, die von 1908 bis 1938 zunächst in Russland, später international aktiv war. Die Mitglieder dieser Schule entwickelten in ihren Werken einen dezidiert jüdischen Stil, der Elemente jüdischer Folklore und synagogaler Musik in europäische Formen integrierte. Die Neue Jüdische Schule ist somit durchaus mit anderen nationalen Strömungen in der Musik (wie die russische, tschechische, spanische oder norwegische Schule) vergleichbar, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts die europäische musikalische Landschaft prägten. Die Komponisten der Neuen Jüdischen Schule schufen viele Hunderte von Werken in allen Gattungen, von schlichten Volksliedbearbeitungen bis zu Symphonien und Opern, viele dieser Werke wurden in Deutschland, insbesondere in Berlin aufgeführt. Seit 1932 wurden in Berlin zudem regelmäßig bedeutende Werke zeitgenössischen synagogaler Musik präsentiert. Die Entwicklung jüdischer Musik in Deutschland begann also nicht erst 1933, sondern viel früher.

Von Jahr zu Jahr stieg der Anteil jüdischer Komponisten und vor allem jüdischer Musik in den Konzertprogrammen des Kulturbundes beträchtlich. Bereits in den Jahren 1933–35 wurden mehrere Werke jüdischer Kunstmusik, darunter auch zionistisch inspirierte Kompositionen präsentiert. Eine der ersten dokumentierten Aufführungen derartiger Werke fand im März 1934 im Rahmen der Sinfoniekonzerte in der Synagoge Prinzregentenstrasse unter Michael Taube statt. Es war die Streichorchester-Fassung der „Variationen über einen palästinensischen Volkstanz“ [Hava nagila] von Israel Brandmann. Im Dezember 1934 spielte der Pianist und Komponist Hans Baer in einigen Klavierabenden seine „Fantasien über das Lied ‚El jiwneh Hagalil’“, sowie Klavierstücke nach jemenitischen Motiven von Edvard Moritz. Der Opernchor des Kulturbundes und der Chor von Chemjo Winawer interpretierten jeweils im Juni 1934 und im April 1935 die „Drei palästinensischen Hirtenweisen“ von Brandmann. In einigen Konzerten erklangen Bearbeitungen palästinensischer Volkslieder von Brandmann, Aron Marko Rothmüller, Erich Walter Sternberg, Jakob Schönberg u.a. Zu erwähnen ist auch ein Wohltätigkeitskonzert der Berliner Zionistischen Vereinigung am 11. April 1935 unter dem Motto „Spende jüdischer Künstler für den Bodenkauf in Palästina“, in dem unter anderem Karol Rathaus’ erst einige Tage zuvor uraufgeführte Orchestersuite aus der Schauspielmusik zu „Uriel Acosta“ gespielt wurde und an dem prominente Solisten wie die Altistin Paula Lindberg, der Bassist Alexander Kipnis und der Geiger Andreas Weißgerber teilnahmen.

Enorme Resonanz fanden die Aufführungen moderner jüdischer vokalsymphonischer Werke, wie die Oratorien „Balak und Bilam“ von Hugo Adler, „Das Lied von Moses“ von Max Ettinger und „B’reschith“ von Oskar Guttmann, sowie großformatiger liturgischer Kompositionen von Jacob Weinberg, Ernest Bloch, Heinrich Schalit oder Leo Kopf. Zu einem Höhepunkt des jüdischen Musiklebens in Deutschland wurde 1938 die europäische Premiere der Oper „Die Chaluzim“ von Jakob Weinberg vor dreitausend begeisterten Zuhörern.

Vor allem in Kammermusikkonzerten und Liederabenden hatten die zeitgenössischen deutsch-jüdischen Komponisten oft Gelegenheit, ihre neuen Werke vorzustellen. Zu ihnen gehörten Berthold Goldschmidt, Erich Walter Sternberg, Max Kowalski, Leo Lewy, Sara Wittenberg, Georg Wolfsohn, James Rothstein, Hugo Adler, Jakob Schönberg, Oskar und Alfred Guttmann, Walter Hirschberg, Heinrich Schalit, Bernhard Sekles, Bernhard Heiden, Gerhard Goldschlag, Rose Geiger-Kullmann, Cilly Zukmann-Bizony und viele andere, die zu einem beträchtlichen Teil jüdische Kunstmusik schufen. Darüber hinaus wurden auch Werke von Ernest Bloch, Darius Milhaud und von den russisch-jüdischen Komponisten der Neuen Jüdischen Schule aufgeführt, wie zum Beispiel in einem Konzert „Jüdische Musik unserer Zeit“ im Bechstein-Saal am 14. Dezember 1935, das von dem jungen Musikwissenschaftler und Zionisten Hans Nathan (1910–1989) konzipiert und am Klavier mitgestaltet wurde. Auf dem Programm standen Werke von Ernest Bloch, Joel Engel, Heinrich Schalit, Erich Walter Sternberg, Alexander Krejn, Darius Milhaud, Mario Castelnuovo-Tedesco und Joachim Stutschewsky.

Solche Konzerte, die gänzlich moderner jüdischer Musik gewidmet waren, bildeten allerdings eher eine Ausnahme. Viel häufiger wurden derartige Werke auf die Programme allgemeiner Konzerte mit klassischem Repertoire mit aufgenommen. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist ein Konzert des Frankfurter Jüdischen Kulturbundes am 1. März 1937, in dem neben Werken von Brahms, Schubert, Hasler und Bartók die Uraufführung einer Kantate der Frankfurter jüdischen Komponistin Rosy Geiger-Kullmann (1886–1964) präsentiert wurde. Wenn man bedenkt, dass Werke mit neuen und ungewohnten Stiltendenzen sich zu allen Zeiten beim Publikum nur schwer durchsetzen konnten, mutet es fast erstaunlich an, dass so viele anspruchsvolle moderne Musikkompositionen bei den Veranstaltungen der Jüdischen Kulturbünde aufgeführt wurden. Insgesamt erklangen in diesen Konzerten Werke von mindestens 70 jüdischen Komponisten, die meisten davon aus dem 20. Jahrhundert.

Einen derart exponierten Platz in den Konzerten der Kulturbünde hätte jüdische Musik ohne das leidenschaftliche Engagement vieler Interpreten natürlich nicht einnehmen können. Sie mussten jüdische Musikwerke einem Publikum vermittelten, das diese Musik in der Regel erst einmal für sich zu entdecken hatte, und wurden mit Widerständen auch seitens übervorsichtiger Veranstalter konfrontiert. In diesem Zusammenhang ist eine Notiz der Sängerin Ruth Kisch-Arndt (1898-1975) aussagekräftig, die sie als „kleines Vorwort“ zu ihrem Konzertprogramm mit hebräischen Liedern publizierte: „Dass die Leitung des Jüdischen Kulturbundes Rhein-Ruhr sogleich einsichtsvoll meinem Wunsche, hebräische Lieder ins Programm aufzunehmen, nachkam, habe ich umso dankbarer empfunden, als ich häufig anderwärts auf Widerstand damit stoße. ‚Ach, hebräisch! Ach, das Publikum will das nicht,’ höre ich meistens als Einwand. Nach einer kurzen Unterredung mit solchen Opponenten kommt meistens heraus, dass man eigentlich nicht hebräisch, sondern jiddisch meint. Jiddisch ist […] dem deutschen Juden fern; es muss, wenn es gut, wenn es echt gesungen werden soll, mit dem ihm eigentümlichen Tonfall, evtl. sogar mit Bewegungen gesungen werden, was dem deutschen Juden beides […] ‚auf die Nerven’ geht. Ganz anders das Hebräische. Es ist unsere klassische Sprache, voll vorbildlicher Kraft und Schönheit. Fast jeder Jude hat sie ein wenig ge¬lernt, sie ist die Sprache unserer Väter und – un¬serer Kinder. Wie schön hebräisch klingt, wissen viele von uns durch die Aufführungen der Habima. Aber auch jeder von uns kann es beim Lesen merken, wenn er den Rhythmus der heiligen Schrift im Urtext […] beachtet. Wie sehr diese Sprache immer zum Singen verlockte, sehen wir daran, dass das Hebräische seit Urzeiten gesungen wurde. Im Gottesdienst wird es noch heute getan. Was ist unser Musizieren anderes als Gottesdienst? […] Wir musizieren nicht mehr, wie es früher viele taten, nur zum ästhetischen Genuss, wir musizieren in erster Linie zur Erbauung. Zum Aufbauen aus Eigenstem, weil alles andere abfallen musste. In unserem Haus, meist im Hause unseres Gottes, beginnen wir unsere Musik zu machen und erheben die Herzen in unserer Sprache. Darum sollte das hebräische Lied immer gepflegt werden.“

Nicht nur bei einzelnen Konzertveranstaltern, sondern auch innerhalb der Leitung des Kulturbundes verlief die Hinwendung zu jüdischen Themen in der Musik nicht ohne Kontroversen. Während der Geschäftsführer Werner Levie, ein Zionist seit 1917, die nationale Richtung in der Musik förderte, konnte Kurt Singer zunächst speziell mit jüdischer Kunstmusik wenig anfangen. Noch 1934 stellte er ihre Existenz ganz und gar in Abrede: „Dass wir gewisse Melodien in unserem Kulturbereich als jüdische anerkennen oder dass wir Orchesterwerke jüdischer Komponisten als jüdische bezeichnen, das ist eine Verlegenheit. Nach der Erkenntnis und den Erfahrungen der wirklichen Fachleute ist jüdische Musik nur in der synagogalen Musik und im jüdischen Volkslied existent“.

Hinter dieser Behauptung verbarg sich jedoch gewiss nicht die „Erkenntnis der wirklichen Fachleute“, sondern gerade die Unkenntnis der existierenden Musikliteratur. Einige Referate der erwähnten Kulturtagung des Reichsverbandes der jüdischen Kulturbünde in Deutschland im September 1936 befassten sich zum Beispiel gerade mit einzelnen Gebieten jüdischer Musik. Arno Nadel berichtete über „Jüdische liturgische Musik und jüdisches Volkslied“, Karl Adler über „Jüdische Chormusik“ und Anneliese Landau über „Das jüdische Kunstlied“. Obwohl Kurt Singer in seinem Schlusswort später erneut die Existenz jüdischer instrumentaler Musik abstritt, wurde ihr ebenfalls ein ausgedehntes Referat „Jüdische Orchester- und Kammermusik“ von Hans Nathan gewidmet. Nathans Meinung nach hätte es bereits zahlreiche Werke gegeben, die nicht nur mit jüdischen Melodien arbeiteten, sondern auch einen „vom Erlebnis des Judentums gezeichneten“ Stil repräsentierten. Nathan nannte konkrete Beispiele dafür, unter anderem lobte er die 2. Klaviersonate von Alexander Weprik und die „Variationen über eine palästinensische Hirtenweise“ von Berthold Goldschmidt als „beste jüdische Klavierstücke“.

Bereits einige Monate vor der Kulturtagung war in der „Jüdischen Rundschau“ ein Plädoyer für jüdische Musik von deren Wiener Vorkämpfer, dem Komponisten, Cellisten und Musikpublizisten Joachim Stutschewsky (1891–1982), erschienen: „Wir denken nicht daran, uns von der europäischen Musik loszusagen und können fernerhin leidenschaftliche Anhänger, Freunde und Förderer der Musik anderer Völker sein. Darüber hinaus erstreben wir eine Musik, die aus der Volksgebundenheit des jüdischen Komponisten gespeist und getragen, im Jüdischen verwurzelt ist. Wenn sich die jüdischen Musiker, und es sind heute ihrer nicht wenige, bemühen wollten, die Liebe zum eigenen Volke zurückzugewinnen, zur jüdischen Geschichte und Kultur zurückzufinden, werden wir in kürzester Zeit eine jüdische Kunstmusik [im Original gesperrt], gleichwertig der anderer Nationen, besitzen. Es liegt ausschließlich an uns selbst.“ Seinen Artikel beendete Stutschewsky mit einem pathetischen Aufruf: „Jüdischer Musiker: Dein Schicksal ist, als Jude zu leben und zu schaffen! […] Bahne der jüdischen Musik den Weg!“

Mit dieser Forderung rannte er in Berlin offene Türen ein. Ein Jahr nach dem Erscheinen dieses Artikels berichtete der Vorsitzende der Berliner Zionistischen Vereinigung und Präsidiumsmitglied im Reichsverband der Jüdischen Kulturbünde, Benno Cohn, mit Genugtuung, dass in den Konzertprogrammen „zweifelsohne ein starkes Hervortreten der jüdischen Komponisten“ zu spüren war. „In jedem Programm werden neben Werken der allgemeinen Musikliteratur jüdische Komponisten wie Ernest Bloch, Mahler, Schönberg, Erich Walter Sternberg, Joel Engel, Brandmann und Schalit gespielt.“ Dennoch gab sich die Leitung des Reichsverbandes damit nicht zufrieden. Sie plante, umfangreiche und individuell ausgearbeitete Programmvorschläge an alle Kulturbünde zu schicken, das Ziel dieser Aktion war es, „die allzu konventionellen musikalischen Programme durch Spielfolgen zu ersetzen, die eine organische Verbindung von allgemeinen und jüdischen Musikwerken schaffen. Der Produktion der lebenden jüdischen Komponisten ist hier ein besonders starker Raum gegeben.“
 

Kompositionswettbewerb des Reichsverbands der Jüdischen Kulturbünde (1936)

Während der Kulturtagung des Reichsverbandes Jüdischer Kulturbünde im September 1936 wurde beschlossen, einen Kompositionswettbewerb auszuschreiben, der „der Förderung zeitgenössischer jüdischer Musik aller Art dienen soll und für alle jüdischen Komponisten in Deutschland und auswärts offen ist.“ Dieser Wettbewerb ist als eine bemerkenswerte und spektakuläre Aktion zur Förderung zeitgenössischer jüdischer Komponisten zu bewerten.

Es wurden Preise in fünf Kategorien vergeben: Orchester, Chor mit Orchester, Chor a capella, ein Chorwerk für Schulen und Jugendbünde, sowie ein Liederzyklus. Die Kompositionen sollten einen jüdischen Charakter haben. Unter den damaligen Bedingungen, als die antisemitischen Maßnahmen immer mehr eine lebensbedrohliche Dimension erreichten, und ein Jahr nach den Nürnberger Rassegesetzen an die Kreativität jüdischer Komponisten zu appellieren, war ein wagemutiges Unternehmen. Umso beachtlicher waren dessen Ergebnisse: Unerwartet viele Komponisten nahmen an dem Wettbewerb teil, insgesamt 122 Werke wurden zugesandt. Es waren natürlich nicht lauter Meisterwerke darunter. Ganz abgesehen von ihrer Qualität zeugten aber alle diese Kompositionen von der Geistesstärke und dem Kulturwillen ihrer Schöpfer.

Die Idee eines solchen Wettbewerbs hatte Kurt Singer bereits im Juli 1936 in seinem umfangreichen Artikel „Der Reichsverband Jüdischer Kulturbünde. Entwicklung, Arbeit, Aufgabe“ in der „Jüdischen Rundschau“ geäußert. Das Ziel des Preisausschreibens war, so Singer, „die Produktion der Komponisten zu fördern, wenn wir sie auffordern, bestimmte Werke zu schaffen, die in unseren Berliner Konzerten – und damit auch anderweitig – zur Aufführung gelangen sollen.“ Es sollten jedoch nicht beliebige Werke jüdischer Autoren sein, sondern explizit Werke jüdischer Musik, die inhaltlich der klar formulierten Leitlinie des Kulturbundes entsprechen würden: „jüdisches Wesen in jüdischen Klang zu bannen.“ Während die ausgesetzten Preise (später auf jeweils 100 bis 250 Reichsmark festgelegt) eher eine symbolische Bedeutung haben durften, sollten die Komponisten vor allem ermutigt werden, „für jüdische Menschen von heute zu schaffen, Bereicherung den üblichen Programmen zu geben, Auftrieb eigentlicher jüdischer Kulturarbeit zu sein.“

Kurt Singer hatte ursprünglich acht Wettbewerb-Kategorien angedacht, letztlich wurden die Preise nur in fünf Kompositionsgattungen ausgeschrieben, darunter für ein Chorwerk mit Orchesterbegleitung, ein Chorwerk a capella, ein Chorwerk für Schulen und Jugendbünde, einen Liederzyklus, sowie für ein feierliches Orchestervorspiel. Speziell die letztere Gattung bezeichnete Singer in seinem Artikel als „sinfonischen Prolog für alle repräsentativen jüdischen Veranstaltungen (eventuell mit Einarbeitung der Hatikwah)“.

Veröffentlicht wurden die Ergebnisse des Wettbewerbs erst im Mai 1937, unter anderem in den Mitteilungen des Kulturbundes. Das Unternehmen wurde als „bemerkenswerter Erfolg“ bezeichnet. Insgesamt waren 122 Werke eingesandt worden, die von einer aus „führenden jüdischen Musikern Deutschlands“ bestehenden Jury in monatelanger Arbeit ausgewertet wurden. Die entscheidende Sitzung unter dem Vorsitz Kurt Singers fand am 28. April 1937 statt. Drei Werke wurden mit Preisen bedacht: das „Vorspiel“ von Werner Seelig-Bass, das Oratorium „Vom jüdischen Schicksal“ für gemischten Chor und Orchester von Richard Fuchs, sowie „Sechs hebräische Volkslieder“ für Chor a capella von Hugo Adler. Werke von Walter Hirschberg, Julius Chajes, Max Kowalski, Erich Katz, Oskar Guttmann, Arno Nadel und Herbert Fromm wurden zur Aufführung empfohlen, beziehungsweise lobend erwähnt. Der Reichsverband beschloss sogar, das Aufführungsmaterial der empfohlenen Werke auf eigene Kosten zu erstellen und an die regionalen Kulturbünde zu verschicken. Tatsächlich wurden dann mehrere dieser Werke in verschiedenen Städten gespielt.

Kurt Singer erklärte in der „Jüdischen Rundschau“ speziell das Prozedere des Wettbewerbes. Nachdem Karl Wiener als „Generalsekretär des Preisausschreibens“ die mühsame Arbeit der vorläufigen Sichtung geleistet hatte (dabei wurden 60 Werke als „dilettantisch oder ungeeignet oder nicht den Zwecken des Preisausschreibens entsprechend“ abgelehnt), wurden die Werke von Juroren gesichtet. Der Jury für Orchesterwerke gehörten Kurt Singer, Julius Prüwer, Rudolf Schwarz, Hermann Schildberger und eine Person namens „Sinsheimer“ (vermutlich Max Sinzheimer) an. Von den fünfzehn eingesandten Werken in dieser Kategorie bevorzugten alle Juroren einmütig „dasselbe feierliche Orchestervorspiel, dessen Verfasser in dem mit Kennwort versehenen Briefumschlag seinen Namen nicht verriet. Statt dessen war eine Telephonnummer angegeben und ein Name, bei dem wir in dem Falle, dass ein Preis dem Werk zuteil würde, den Namen des Autors erfahren würden. Unsere Überraschung war riesengroß, als wir auf diesem Umweg erfuhren, dass es sich um unseren früheren Berliner Kulturbund-Kapellmeister, den bekannten Dirigenten und Pianisten Werner Seelig-Baß handelte. Sein Orchestervorspiel hat das beste Format, ist glänzend instrumentiert, steigert ein der jüdischen Musik entlehntes Thema zu einem brillant ausladenden Fugato.“

„Wie dies bei Kompositionswettbewerben fast die Regel ist, trug auch dieser nicht die erhofften Resultate ein; alle preisgekrönten Werke brachten es nicht zur Weltgeltung, das ‚Feierliche Vorspiel’ von dem Berliner Seelig-Bass ebensowenig wie die ‚auf der anderen Seite’ unermüdlich produzierten ‚feierlichen Vorspiele’ zu NS-Ritualen.“
(Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, S. 98)

Diese haarsträubende Passage aus einem Standardwerk zur „Musik im NS-Staat“ ist charakteristisch für die in der heutigen Musikwissenschaft etablierte Einschätzung nationaler Tendenzen im jüdischen Musikleben: das zionistisch inspirierte Werk von Seelig-Bass ist demzufolge der gleichen Kategorie von Musik zuzurechnen, wie die propagandistischen Machwerke der Nazi-Komponisten. Besonders befremdlich erscheint jedoch die abfällige Bemerkung über die musikalische Qualität der preisgekrönten Werke jüdischer Komponisten, die es alle „nicht zur Weltgeltung brachten“. Es fragt sich, nach welchen Kriterien die Qualität der Werke beurteilt werden kann, die kaum oder überhaupt nicht verfügbar sind und die nie eine Chance bekamen, der Öffentlichkeit präsentiert zu werden. Vermutlich war es auch dem Autor des angeführten Zitats nicht möglich, auch noch ein einziges dieser Werke zu analysieren, geschweige denn zu hören. Abgesehen davon, dass es den Initiatoren des Wettbewerbes damals sowieso nicht um die „Weltgeltung“ ging, sondern um die Förderung des zeitgenössischen Musikschaffens im jüdischen Geist, wurde speziell das „Feierliche Vorspiel“ von Seelig-Bass viele Jahre nach seiner hochgelobten Premiere in Berlin immerhin auch in New York, Washington und Johannesburg gespielt – und ebenfalls positiv aufgenommen. Wie könnte aber über ein anderes, ebenfalls mit dem Ersten Preis bedachtes Werk, das Oratorium „Vom jüdischen Schicksal“ für vier Solisten, gemischten Chor und Orchester von Richard Fuchs geurteilt werden, das 1937 für die Uraufführung vollständig vorbereitet worden war und im letzten Moment durch das Verbot von Hans Hinkel abgesagt werden musste? Diese Komposition wurde bis heute nicht aufgeführt, das Manuskript befindet sich in einem Archiv in Neuseeland.

Und wie sollte man heute etwa die Musik eines jüdischen Komponisten aus Mannheim, Karl Hamburger, bewerten, der im Jahre 1934 eine „Tanzszene“ für großes Orchester unter dem Titel „Esther“ komponierte? Dieses Werk basierte auf Motiven der Kantillationen des Buches Esther in der süddeutschen Tradition. In Form einer symphonischen Dichtung stellte der Komponist die wundersame Rettung des jüdischen Volkes dar. Einer Zeitungsnotiz von Oskar Guttmann zufolge war dieses „ausgezeichnet instrumentierte“ Werk in einer „romantischen Haltung“ komponiert. Trotz der Empfehlung Guttmanns wurde „Esther“ nie aufgeführt, über den Komponisten waren gegenwärtig keinerlei biographische Daten zu ermitteln. Auch dieses Werk „brachte es nicht zur Weltgeltung“.

Der größte Teil der unter schwierigsten Bedingungen vollbrachten kulturellen Leistungen der deutsch-jüdischen Künstler der Nazi-Zeit ist für immer verschwunden. Darunter sind nicht nur die in den Kunst- und Kulturarten, welche schon ihrer Natur nach vergänglich sind, wie zum Beispiel die reproduktiven Künste. Wir besitzen keine genaue Vorstellung von den Theater- und Opernaufführungen, den Konzert- und Kleinkunstaufführungen, den Vorträgen und Kabarettveranstaltungen der Jüdischen Kulturbünde. Höchstens die zeitgenössische jüdische Presse und einige Zeugenberichte können einen – wenn auch bei weitem nicht authentischen – Eindruck davon vermitteln. Aber auch Kunstwerke, die eher für die Nachwelt erhalten werden könnten, wie etwa Musikkompositionen, sind durch die tragischen Lebensumstände ihrer Schöpfer zum großen Teil verloren oder zerstört. Diejenigen Werke, die den Krieg und die Shoa überdauerten, sind ihrerseits kaum verfügbar. Da sie zu der Zeit ihres Entstehens unter den Bedingungen des Nazi-Regimes nicht publiziert werden konnten und nach dem Krieg kein Interesse mehr dafür bestand, befinden sie sich als Manuskripte in Archiven und im Privatbesitz in der ganzen Welt zerstreut. Die in der letzten Zeit gehobenen und der Öffentlichkeit zugänglich gemachten musikalischen Schätze stellen immer noch nur einen kleinen Teil dieser Werke dar. Solange es noch nicht gelungen ist, die durch die Zeitläufte verschütteten Künstlerbiografien zu rekonstruieren und die erhalten gebliebenen Werke auszuwerten, bleibt die Geschichte der Jüdischen Kulturbünde ein Abstraktum und wird von willkürlichen Meinungen der damit befassten Wissenschaftler dominiert.

Eine derartig tendenziöse Darstellungsweise findet besonders oft in einem Bild der jüdischen Kulturschaffenden als willenloser Marionetten der Nationalsozialisten ihren Ausdruck. Was die Tätigkeit der Jüdischen Kulturbünde angeht, müssen solche Auffassungen in jedem Fall entschieden zurückgewiesen werden.

Der Schriftsteller Jakob Wassermann schrieb 1912: „Ich bin Deutscher, und ich bin Jude, eines so sehr und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen“. Diese Aussage ist ein Schlüssel nicht nur zu den meisten deutsch-jüdischen Biografien, sondern auch zu einem beträchtli¬chen Teil des deutsch-jüdischen künstlerischen Schaffens. Ohne das können wir weder das Werk von Heinrich Heine, Franz Kafka oder Paul Celan authentisch ver¬stehen, noch das Schaffen der Komponisten des Jüdischen Kulturbundes. All diese Werke sind dem Jüdischen genauso verpflichtet, wie dem Deutschen.
 

Literatur

  • Stephan Stompor: Jüdisches Musik- und Theaterleben unter dem NS-Staat, Hannover 2001
  • Akademie der Künste Berlin (Hrsg.): Geschlossene Vorstellung. Der Jüdische Kulturbund in Deutschland 1933–1941, Berlin 1992
  • Eike Geisel, Henryk M. Broder: Premiere und Pogrom. Der Jüdische Kulturbund 1933–1941. Texte und Bilder, Berlin 1992
  • Horst J.P. Bergmeier, Ejal Jakob Eisler und Rainer E. Lotz: Vorbei. Dokumentation jüdischen Musiklebens in Berlin 1933–1938, Hambergen 2002
  • Jascha Nemtsov: Deutsche-jüdische Identität und Überlebenskampf: Jüdische Komponisten im Berlin der NS-Zeit, Wiesbaden 2010
  • Fritsch-Vivié: Gegen alle Widerstände. Der Jüdische Kulturbund 1933–1941. Fakten, Daten, Analysen, biographische Notizen und Erinnerungen, Berlin 2013