Nationalsozialismus: Quellen, Vorläufer, Ideologie, Organisationsformen, Gründe des Erfolgs

Zwei Lieder:
„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, ein beliebtes Lied der linken Arbeiterschaft, gilt heute noch als inoffizielle Hymne der SPD. Das Lied ist auf der Basis eines alten russischen Revolutionsliedes entstanden:
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„Brüder in Zechen und Gruben“ war eines der bekanntesten Lieder der NS-Bewegung, der Text mit antisemitischen Passagen wurde 1927 mit derselben Melodie kombiniert:
→ Lied zum Anhören (mp3)
→ Liedtext im Volksliederarchiv

Wie kann es sein, dass der gleiche Revolutionsgestus, die gleiche Ästhetik und der gleiche Marschrhythmus sowohl für die linke Arbeiterbewegung als auch für die NS-Bewegung passte und dass das Lied zur selben Zeit innerhalb dieser beiden Bewegungen gleichermaßen populär war?

Es sind bald 75 Jahre, seitdem die NSDAP verboten und aufgelöst wurde. Von den damals 11 % der deutschen Bevölkerung, die Mitglieder dieser Partei waren, ist heute nur noch eine Handvoll am Leben. Der Bezug auf den NS ist dennoch allgewärtig im heutigen gesellschaftlichen Diskurs und wird eher immer stärker. Auf der anderen Seite sind die Vorstellungen davon, was der NS war und wofür die NS-ideologie stand, bei den meisten Menschen nur noch sehr diffus. Der NS wird daher oft als Mythos behandelt und der Begriff beliebig benutzt.

Problem der Begrifflichkeit: Bereits seit den 1920er Jahren im kommunistischen Milieu und später in der DDR wurden die Begriffe Faschismus bzw. Antifaschismus benutzt, der Begriff „NS“ wurde gemieden. 1932 wurde die Bezeichnung „NS“ in der Sowjetunion sogar verboten, um keine Assoziationen mit dem Sozialismus zu wecken. Die offensichtlichen Gemeinsamkeiten und Parallelen zwischen dem NS-Regime und der sowjetischen Diktatur sowie die sozialistische Ausrichtung der NS-Ideologie sollten verdeckt werden. Die Nationalsozialisten selbst haben sich weder als Nazis noch als Faschisten bezeichnet.

Linke und rechte Politik.

Der Idee der NSDAP entsprechend sind wir die deutsche Linke. Nichts ist uns verhasster als der rechtsstehende nationale Besitzbürgerblock.

(Joseph Goebbels, in: Der Angriff, Gauzeitung der Berliner NSDAP, 6.12.1931, zit. nach Wolfgang Venohr: Dokumente Deutschen Daseins: 500 Jahre deutsche Nationalgeschichte 1445-1945, Athenäum Verlag, 1980, S. 291)


Europäische Ideologien sind ab Ende des 18. Jh. als Ersatz für ein christlich-religiöses Weltbild entstanden. Fortschreitende Säkularisierung bedeutete den Verlust der geistigen Sicherheit. Die Ideologien bieten den Halt und eine umfassende Erklärung der Welt. Jede Ideologie ist so gesehen ein Ersatz für Religion: Sie basiert auf Glaubensgrundsätzen, die nicht hinterfragt werden dürfen. Viele solcher Ideologien vermitteln ein negatives Bild der Gegenwart und ein utopisches Bild einer perfekten, idealen Zukunftsgesellschaft, das als Ziel der Bewegung fungiert und als eine Art Erlösung dargestellt wird. Motive der Heil- und Erlösungsideologien: eine drohende Apokalypse, Schuld und Opfer, „Naturzustand“ als idealisiertes Bild des verlorenen Paradieses, die Gestalt des Heilands oder Propheten.

Die christlichen Denkmuster und Denkfiguren – wie etwa die Trennung der Welt in das Gute und das Böse – werden übernommen und mit anderen Inhalten gefüllt.

Wenn Menschen aufhören, an Gott zu glauben, dann glauben sie nicht an nichts, sondern an alles Mögliche. Das ist die Chance der Propheten – und sie kommen in Scharen.

(Keith Gilbert Chesterton, englischer Schriftsteller, 1874–1936)

Solche Bewegungen sind in der Regel antidemokratisch – ihrer Meinung nach sei die Demokratie zu richtigen und wirksamen Lösungen nicht in der Lage, um die Gesellschaft vor den drohenden Gefahren zu schützen. Es wird für radikale autoritäre Lösungen geworben.

Die NS-Ideologie ist eklektisch, ihre sämtlichen Bestandteile waren bereits vorher im deutschen und europäischen geistigen Leben – speziell in sozialistischen Strömungen des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts – präsent und mehr oder weniger stark verwurzelt. Keine dieser Ideen ist außerdem nach 1945 spurlos verschwunden.

Nationalsozialismus als revolutionäre Bewegung und Jugend-Bewegung

Jugend neigt generell zum revolutionären Denken, zu radikalen Ideen und zum Extremismus. Sie hat wenig zu verlieren und viel zu gewinnen und ist eher risikobereit als ältere Generationen. Die Parteimitglieder der NSDAP waren im Schnitt viel jünger als die Mitglieder der bürgerlichen Parteien. Knapp 60 Prozent der zwischen 1925 und 1930 in die Partei eingetretenen Mitglieder waren unter 30 Jahre alt. Das Durchschnittsalter aller Parteimitglieder betrug Ende der 1920er Jahre 31 Jahre.

Eine wichtige Stütze der NS-Bewegung war die Studentenschaft. Im Juli 1931 erlangte der Nationalsozialistische deutsche Studentenbund (NSDStB) bei den Wahlen des 14. deutschen Studententags die absolute Mehrheit, er war schon vor der Machtergreifung die dominierende politische Richtung an den meisten Universitäten.

Der NS war wie keine andere politische Bewegung auch bei Jugendlichen populär, die noch nicht wählen durften. NS-Jugendorganisationen.
 

Nationalsozialismus als pseudo-religiöse, sozial-utopische Massenbewegung. Kult der „Reinheit“ und der „Neue Mensch“

NS-Rituale. Ritualisierung bestimmter Vorgänge hat oft mit religiösen oder pseudoreligiösen Inhalten zu tun: Ritual ist Handlung, die nach festen, nicht hinterfragbaren Regeln abläuft und einen hohen symbolischen Gehalt hat. Das ist zugleich eine Handlung, die gewissermaßen zum Selbstzweck wird, weil sie keinen praktischen Nutzen hat. Sie ist imstande, einen positiven seelischen Zustand hervorzurufen: das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft der Guten. Sie wirkt daher identitätsstiftend, vermittelt das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit.

Der Führerkult mit starken religiösen Akzenten ist für verschiedene Diktaturen des 20. Jahrhunderts typisch (das italienische Wort duce für Mussolini und das russische Wort vožd‘ für Lenin und Stalin bedeuten beide ebenfalls „Führer“). Er enthält messianische Züge, der Führer wird zu einem christusähnlichen Heros erhoben.

Die NS-Feste – „Feiern des Reiches und des Jahreslaufs“ – wurden im Dritten Reich als Konkurrenz zum Kirchenjahr begründet und dienten als „Ersatzunternehmen zum christlichen Kult“. Das sakrale Vokabular – „Heil“, „heilig“, „Altar“, „Erlösung“ usw. – fand vermehrt Eingang in die nationalsozialistische Sprache, die Propagandatexte, politische Reden und Dichtungen.

Ohne die Unterstützung durch breite Massen des deutschen Volkes hätte der Nationalsozialismus weder zur Macht kommen noch sich an der Macht halten können, und an dieser offenkundigen Tatsache ändert es nichts, dass diese selben Massen zum Teil vorher sozialistisch und kommunistisch gewählt haben und heute wieder wählen. Man kann den Nationalsozialismus nicht ärger verkennen, als wenn man seinen Massencharakter leugnet.

(Götz Aly: Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus. S. Fischer 2015)

Die Ideen der „Lebensform“, die aus dem 19. Jahrhundert stammen: die Wiederherstellung der „Reinheit“ in der Natur und in der Gesellschaft, auch der menschliche Körper sollte Objekt der Reform werden.

Die größte Revolution hat Deutschland erlebt durch die in diesem Lande zum ersten Mal planmäßig in Angriff genommene Volks- und damit Rassehygiene. Die Folgen dieser deutschen Rassenpolitik werden entscheidender sein für die Zukunft unseres Volkes als die Auswirkungen aller anderen Gesetze. Denn sie schaffen den neuen Menschen. … Damit unser Volk nicht in den Entartungserscheinungen der Gegenwart untergeht, müssen wir einen neuen Menschen erziehen.

(Adolf Hitler, aus der Rede beim Nürnberger Parteitag 1937).
 

Nationalsozialismus als sozialistische Bewegung

Sozialismus ist auch ohne vollständige Enteignung der Produktionsmittel möglich, er zeichnet sich vor allem durch die Planwirtschaft aus. Jede staatliche Regulierung der Preisbildung und jede Einschränkung eines freien Austauschs von Waren, Dienstleistungen und Kapital ist ein Schritt auf dem Weg zum Sozialismus.

Umfassende Planwirtschaft im NS-Deutschland:

Die Wirtschaftsordnung zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus entfernte sich immer weiter vom Idealtyp der Marktwirtschaft und entsprach schließlich weitgehend dem Idealtyp der Zentralplanwirtschaft

(Markus Albert Diehl: Von der Marktwirtschaft zur nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. Die Transformation der deutschen Wirtschaftsordnung 1933–1945, Stuttgart 2005)

Vierjahrespläne in Deutschland als Instrument der Kontrolle der Wirtschaft und der Militarisierung.

Götz Aly: Hitlers Volkstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main, 2005.

Götz Aly bezeichnet den NS-Staat als „gefällige Diktatur“, die zu Gunsten der „Volksgemeinschaft“ funktionierte.

Die Mietpreisbindung (der „Mietendeckel“) wurde zu Hitlers Geburtstag am 20.4.1936 eingeführt, nach dem Krieg wurde sie 1955 zum Teil des DDR-Rechts (der Historiker Hubertus Knabe)

Das noch heute gültige Steuersystem mit Ehegattensplitting und progressiven Steuersätzen wurde ebenfalls in den 1930er Jahren eingeführt und sollte Familien und Geringverdiener entlasten.
Die unzähligen weiteren sozialen Wohltaten wie bezahlter Urlaub, subventionierter Massentourismus für Arbeiter, Finanzhilfen für Bauern, höhere Renten, Schutz von Mietern und Hilfen bei Privatinsolvenz, Familienzulagen usw. wurden durch massive Staatsverschuldung sowie auf Kosten der Juden und später durch die Ausbeutung von Millionen Zwangsarbeitern und der Bevölkerung der eroberten Länder realisiert. Bereits Ende der 1930er Jahre stand Deutschland kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Der NS-Sozialstaat wurde so durch organisierten Raub finanziert.

Verbindung der antisemitisch-völkischen und antikapitalistischen Ideologie im Parteiprogramm der NSADP. Die gleiche Verbindung in den heutigen neo-nazistischen Bewegungen, z.B. „Der III. Weg“.
 

Nationalsozialismus als antisemitische Bewegung

Der NS-Antisemitismus war eine Verbindung des rassistischen Gedankenguts mit bereits bestehenden Formen der Judenfeindschaft. Eine besondere Rolle spielte dabei der kapitalismuskritische Antisemitismus. Die in der christlichen Tradition fest verankerte und in der Neuen Zeit „säkularisierte“ Dämonisierung der Juden als Feinde der Menschheit war ein fester Bestandteil des sozialistischen Diskurses seit seinem Entstehen im 18. Jahrhundert. Die antisemitische Identifikation der Juden mit kapitalistischen Ausbeutern prägte die meisten sozialistischen Theorien.

Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element, welches durch die geschichtliche Entwicklung, an welcher die Juden in dieser schlechten Beziehung eifrig mitgearbeitet, auf seine jetzige Höhe getrieben wurde, auf eine Höhe, auf welcher es sich notwendig auflösen muß. Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.

(Karl Marx: Zur Judenfrage, 1843)

Offen antisemitische Ansichten vertraten bedeutende sozialistische Theoretiker wie Henri de Saint-Simon (1760–1825), François Marie Charles Fourier (1772–1837), Louis Auguste Blanqui (1805–1881), Ferdinand Lassalle (1825–1864) oder Michail Bakunin (1814–1876). (vgl.: Micha Brumlik: Antisemitismus im Frühsozialismus und Anarchismus, in: Micha Brumlik u.a. (Hg.), Der Antisemitismus und die Linke, Frankfurt am Main 1991, S. 7 ff.)

Der Jude ist der Feind der menschlichen Art. Man muss diese Rasse nach Asien verweisen oder vernichten. Durch das Eisen oder durch das Feuer oder durch die Ausweisung ist es notwendig, dass der Jude verschwindet.

(Pierre-Joseph Proudhon, französischer Ökonom und Soziologe, Begründer des Anarchismus, in: Notizbücher, 26. Dezember 1847)

Auch Karl Kautsky (1854–1938), einer der Gründer der deutschen Sozialdemokratie, sah die einzige Lösung der Judenfrage in der „Auflösung des Judentums“. Er hielt das Judentum für eine reaktionäre, konservativ beharrende Kraft, die um des gesellschaftlichen Fortschritts willen beseitigt werden müsse: „Je eher es verschwindet, desto besser für die Gesellschaft und die Juden selbst.“ (Karl Kautsky: Rasse und Judentum, Stuttgart 1914)

Der aggressive und eliminatorische Antisemitismus war der gemeinsame Nenner unterschiedlichster sozialutopischer Konzepte, wobei ihre Theoretiker oft auch privat ein virulent antisemitisches Verhalten an den Tag legten.

Der jüdische Nigger Lassalle, der glücklicherweise Ende dieser Woche abreist, hat glücklich wieder 5000 Taler in einer falschen Spekulation verloren. Der Kerl würde eher das Geld in den Dreck werfen, als es einem "Freunde" pumpen, selbst wenn ihm Zinsen und Kapital garantiert würden. ... Es ist mir jetzt völlig klar, dass er, wie auch seine Kopfbildung und sein Haarwuchs beweist, von den Negern abstammt, die sich dem Zug des Moses aus Ägypten anschlossen (wenn nicht seine Mutter oder Großmutter von väterlicher Seite sich mit einem Nigger kreuzten). Nun, diese Verbindung von Judentum und Germanentum mit der negerhaften Grundsubstanz müssen ein sonderbares Produkt hervorbringen. Die Zudringlichkeit des Burschen ist auch niggerhaft.

(Karl Marx an Friedrich Engels, 1862. MEW 30, S. 257-259)

Sie rufen auf gegen das Judenkapital, meine Herren? Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. Sie sind gegen das Judenkapital und wollen die Börsenjobber niederkämpfen. Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber, meine Herren, wie stehen Sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner?

(Die Vorsitzende der KPD Ruth Fischer am 25. Juli 1923 auf einer Versammlung von kommunistischen und völkischen Studenten)
 

Nationalsozialismus als völkisch-nationalistische Bewegung. Rassismus im NS

Der NS bediente sich des rassistischen Gedankenguts, das bereits in der frühen Neuzeit entwickelt wurde und ab dem späten 18. Jahrhundert zum intellektuellen Standard gehörte. Arthur de Gobineaus „Versuch über die Ungleichheit der Menschrassen“ (1853-55) gilt als erste Schrift des modernen Rassismus, die den pseudowissenschaftlichen Begriff der „arischen Herrenrasse“ prägte.

Im NS wurde eine Hierarchie der Rassen und Völker entwickelt – ganz oben die „arische Herrenrasse“, darunter die „minderwertigen slawischen Völker“ und ganz unten die Juden als „lebensunwerte Rasse“. Solche Ideen sollten u.a. den deutschen Anspruch auf den „Lebensraum im Osten“ begründen.

Im 19. Jahrhundert wurde die Vorstellung entwickelt, dass es Völker gibt, die dem revolutionären Fortschritt im Wege stehen und daher verschwinden müssen. Speziell die herabwürdigende Behandlung der slawischen Völker wurde bereits von den Klassikern des Marxismus propagiert:

Unterliegen müssen jene Klassen und Rassen, die zu schwach sind, die neuen Lebensbedingungen zu meistern.

(Karl Marx, Erzwungene Emigration – Kossuth und Mazzini, 1853)

Slawische Völker wurden von Marx und Engels als „Barbaren“ oder „Lumpengesindel“ bezeichnet.

Nun können Sie mich fragen, ob ich denn gar keine Sympathien habe für die kleinen slawischen Völker und Volkstrümmer ... In der Tat verdammt wenig.

(Brief von Friedrich Engels an Karl Kautsky vom 7.2.1882)

Diese elenden Trümmerstücke ehemaliger Nationen, Serben, Bulgaren, Griechen und anderes Räubergesindel, für die der liberale Philister im Interesse der Russen schwärmt, gönnen also einander die Luft nicht, die sie einatmen, und müssen sich untereinander die gierigen Hälse abschneiden. Das wäre wunderschön ...

(Brief von Friedrich Engels an Eduard Bernstein vom 25.2.1882)
 

Nationalsozialismus und die Europa-Idee. Nationales und imperiales Denken

Danach wieder Besprechung. Hauptsächlich Außenpolitik. Führer sieht ganz klar: Vereinigte Staaten von Europa unter deutscher Führung. Das wäre die Lösung. Viele Jahre oder Jahrzehnte noch daran zu arbeiten. Aber ein Ziel!

(Joseph Goebbels, Tagebucheintrag vom 29.5.1936)

Als erste Partei in Europa nahm 1925 die SPD die Forderung nach einem europäischen Einheitsstaat in ihr Parteiprogramm auf:

Sie tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit, für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, um damit zur Interessensolidarität der Völker aller Kontinente zu gelangen.

(aus dem Heidelberger Programm der SPD, 1925-1959)

Der NS beschränkte seine Wirkung keineswegs auf Deutschland, es ging nicht nur um die Stärkung des deutschen Nationalstaats, sondern um die Schaffung eines europäischen Imperiums. Nazi-Pläne für europäische Einigung unter deutscher Führung führten zur Gründung der „Gesellschaft für europäische Wirtschaftsplanung und Großraumwirtschaft e.V.“ am Vorabend des 2. Weltkriegs.

Eine kontinentaleuropäische Großraumwirtschaft unter deutscher Führung muß in ihrem letzten Friedensziel sämtliche Völker des Festlandes von Gibraltar bis zum Ural und vom Nordkap bis zur Insel Zypern umfassen, mit ihren natürlichen kolonisatorischen Ausstrahlungen in den sibirischen Raum und über das Mittelmeer nach Afrika hinein. ... Wenn wir den europäischen Kontinent wirtschaftlich führen wollen, ... müssen wir grundsätzlich immer nur von Europa sprechen, denn die deutsche Führung ergibt sich ganz von selbst aus dem ... Schwergewicht Deutschlands.

(Werner Daitz, NS-Wirtschaftsexperte 1940, zit. nach: Werner Biermann, Arno Klönne: Ein Spiel ohne Grenzen. Wirtschaft, Politik und Großmachtsambitionen in Deutschland von 1871 bis heute, Köln 2009)

Berlin wird als Welthauptstadt nur mit dem alten Ägypten, Babylon oder Rom vergleichbar sein! Was ist London, was ist Paris dagegen!

(Hitler in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1942 in der Wolfsschanze, zit. nach: Werner Jochmann, Hrsg.: Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944. München 1980)

Auch der in der Sowjetunion propagierte Internationalismus war ein ideologischer Deckmantel der angestrebten Weltherrschaft, eines kommunistischen Weltstaats im Einklang mit dem bolschewistischen Konzept einer Weltrevolution.

Die deutschen Streitkräfte waren während des 2. Weltkrieges international aufgestellt. In der Wehrmacht und in der Waffen-SS dienten Vertreter vieler verschiedener Nationen. Über 20% der Waffen-SS waren 1945 Ausländer (200.000 von insgesamt 910.000). Mindestens 24 verschiedene Nationalitäten waren bei der Waffen-SS mit eigenen Einheiten vertreten, darunter ungarische, kroatische, russische, italienische, lettische, estnische, ukrainische, weißruthenische, albanische, niederländische, belgische, französische sowie mehrere mittelasiatische Divisionen. Bis zum 19. April 1943 meldeten sich mehr als 20.000 mehrheitlich muslimische Freiwillige zum Dienst für das Deutsche Reich in der Legion „Freies Arabien“. Zahlreiche verbündete Staaten kämpften auf der Seite des NS-Deutschlands. Rund 30.000 Georgier dienten in den Reihen der Wehrmacht. Die Legion Idel-Ural mit insgesamt ca. 12.500 Personen wurde 1942 aus Vertretern von Turkvölkern in der Sowjetunion aufgestellt.

NS und Islam. Obermufti Mohammed Amin al-Husseini als Führer des politischen Islams in den 1920-40er Jahren, die Verbindungen des politischen Islams zu Nazi-Deutschland.

Nationalsozialismus als deutsche Bewegung. „Deutsche Hybris“

Hybris ist eine extreme Form des Hochmuts, Realitätsverlust und Überschätzung eigener Fähigkeiten.

Was deutsch sei: nämlich, die Sache, die man treibt um ihrer selbst und der Freude an ihr willen treiben.

(Richard Wagner: Deutsche Kunst und deutsche Politik, 1867)

Deutschland ist ein Land, das aufgrund seiner geschichtlichen Brüche keine feste nationale Identität hat. Die Identität ist aber so etwas wie ein Schutzmantel. Er vermittelt mir eine Seinsgewissheit. … Und diese Zuversicht, diese Seinsgewissheit, die haben wir nicht. Wir sind immer auf der Suche nach dem Sinn. Das macht uns aber auch gerade schöpferisch und erfinderisch.

(Stephan Grünewald, Psychologe, Leiter eines Marktforschungsinstituts und Autor, im Deutschlandfunk, 25.12.2015)

Die Pläne für die Reichshauptstadt Germania wurden ohne Rücksicht auf Verluste durchgeführt:

Dass diese menschenverachtenden Pläne trotz enormer Kosten und gewaltiger Folgen für die Berliner Bevölkerung in der Nazi-Führung seinerzeit kaum auf Kritik stießen, kann sich Ausstellungskurator Alexander Schmidt nur so erklären: ‚Die waren alle von dem Projekt berauscht, die haben völlig das Gefühl für die Realität verloren.‘

(„Größenwahn in Germania“, in: Süddeutsche Zeitung, 7.4.2011)

Den Deutschen fehlte es an nationaler Integration, an gemeinsamem Rückhalt, an gewachsenen und akzeptierten Institutionen, um die massiven Veränderungen aufzufangen und abzufedern, die Industrialisierung, Weltmarkt und Volksvermehrung im 19. Jahrhundert mit sich brachten. Die zwischen 1800 und 1945 so auffällige Überbetonung des Deutschen entsprach dem Mangel an Selbstbewusstsein und Freiheitswillen.

(Götz Aly: Warum die Deutschen, warum die Juden)
 

NS-Deutschland als totalitärer Einparteienstaat

Die NSDAP war keine Partei im herkömmlichen Sinn sondern eine straff organisierte Führer- und Kaderpartei nach dem Vorbild der faschistischen Partei in Italien und der bolschewistischen Partei in Russland. Verschmelzung von Partei und Staat im NS-Deutschland.
 

Literatur

  • Markus Albert Diehl: Von der Marktwirtschaft zur nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. Die Transformation der deutschen Wirtschaftsordnung 1933–1945, Stuttgart 2005
  • Götz Aly: Hitlers Volkstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main, 2005
  • Götz Aly: Warum die Deutschen, warum die Juden, Frankfurt am Main, 2012
  • Götz Aly: Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus, Frankfurt am Main 2015