„Europa gegen die Juden“ (Götz Aly): Holocaust als deutsches und europäisches Projekt

Francis Fukuyama (geb. 1952), Autor des Bestsellers „Ende der Geschichte“ (1992). Es gibt noch immer kein Ende der Geschichte. Wir leben wieder in historischen Zeiten, in denen bedeutende Veränderungen stattfinden. Aber auch in hysterischen Zeiten – viele Menschen sind irritiert und verängstigt, weil sie das Geschehene nicht verstehen und nicht einordnen können. Vergleiche mit der Weimarer Republik werden häufig bemüht. Sind solche Vergleiche berechtigt? Ja und nein. Die Spaltung und Radikalisierung von Teilen der Gesellschaft sind zum Teil vergleichbar. Inhaltlich gibt es jedoch wenig Gemeinsames.

Der Holocaust war ein Werk von Radikalen und die radikalste Tat, die bislang von Deutschen begangen wurde.

Zwei Ideen wurden zusammen gebracht: Judenfeindschaft und Genozid. Die Judenfeindschaft führte während ihrer langen Geschichte immer wieder zu Versuchen, das jüdische Leben zu vernichten.

Auch die Idee des Genozids war nicht neu, wie alles im Nationalsozialismus. Der Genozid-Gedanke war im 19. und frühen 20. Jh. in progressiven intellektuellen Kreisen extrem populär. Genozid, der schon immer die Geschichte der Menschheit begleitete, wurde nun wissenschaftlich begründet und somit moralisch legitimiert. Die Vernichtung einer Gruppe von Menschen wurde als Beitrag zur Verbesserung der Welt dargestellt.

Eugenik

Die Pseudowissenschaft Eugenik – sie war in Deutschland hauptsächlich als „Rassenhygiene“ bekannt. Der britische Anthropologe Francis Galton (1822–1911), Neffe von Charles Darwin, prägte Ende des 19. Jahrhunderts den Begriff Eugenik, er bedeutete „die Verbesserung der menschlichen Rasse“ bzw. „die Wissenschaft, die sich mit allen Einflüssen befasst, welche die angeborenen Eigenschaften einer Rasse verbessern“. 1905 Gründung der Gesellschaft für Rassenhygiene in Berlin. Internationale Eugenik-Kongresse fanden 1912 in London und 1921 in New York statt.

Eugenische staatliche Programme wurden über viele Jahrzehnte in den USA, Kanada, der Schweiz, Schweden und anderen Ländern durchgeführt, sie beschränkten sich im Wesentlichen auf Zwangssterilisationen. In den USA begannen die Zwangssterilisationen 1907 in Indiana, insgesamt wurden über 60.000 US-Bürger zwangssterilisiert. Entsprechende Gesetze wurden in 33 Bundesstaaten verabschiedet.
Die ersten organisierten Massenmorde im NS-Deutschland – die sogenannte „Euthanasie“ – waren eine radikale Umsetzung von eugenischen Theorien: als „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ wurden die Morde an Kranken und Behinderten  bezeichnet. Die theoretische Begründung dazu wurde bereits 1920 vom deutschen Psychiater Alfred Hoche zusammen mit dem Staatsrechtler Karl Binding in ihrem Buch Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens publiziert. Im Rahmen der „Euthanasie“ wurden ab 1939 mindestens 216.000 Menschen, darunter viele Kinder, ermordet, über 400.000 Menschen wurden zwangssterilisiert.

Viele bedeutende Persönlichkeiten haben sich für Eugenik engagiert:
“I appeal to the chemists to discover a humane gas that will kill instantly and painlessly. In short – a gentlemanly gas deadly by all means, but humane, not cruel.” [Ich rufe die Chemiker auf, ein humanes Gas zu entwickeln, das sofort und schmerzfrei tötet. Kurz gesagt – ein vornehmes Gas, unbedingt tödlich, aber human und nicht grausam.]

(George Bernard Shaw in einem Interview mit dem BBC Magazin The Listener am 7.2.1934)
Adolf Eichmann berief sich 1961 in seinem Jerusalemer Prozess auf George Bernhard Shaw: Er sagte aus, dass Hitler mit Cyklon B genau das gefunden habe, was Shaw verlangt hatte.

„Wenn die Minderwertigkeit einer Rasse demonstriert werden kann, dann gibt es nur eines [...] zu tun – und dies ist, sie auszurotten.“ (Herbert Wells, 1904)

Auch sozialistische Theorien bezogen ihre Legitimation aus dem wissenschaftlichen Diskurs. Schaffung eines „Neuen Menschen“ wurde zum Bestandteil jeder sozialistischen Theorie. Für die künftigen paradiesischen Zustände mussten „gewisse inhumane Eingriffe“ in Kauf genommen werden. Hitler beschäftigte sich mit der Rassenhygiene vertieft während seiner Haft und der Arbeit am „Mein Kampf“ 1923. Unter anderem studierte er das 1921 von Fritz Lenz (dem ersten Lehrstuhlinhaber für Rassenhygiene) zusammen mit Eugen Fischer und Erwin Baur veröffentlichte Standardwerk Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene.

Genozid an Armeniern und aramäischen Christen durch Türken und Kurden ab 1915 mit ca. 1,5 Millionen ermordeten Menschen als erster ethnischer Massenmord im 20. Jahrhundert. Hitler äußerte sich dazu in einer Rede am 22.8.1939: „wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier“.
 

Die Verantwortlichen für den Holocaust

  1. Der innere Kreis der nationalsozialistischen Führung.
  2. Die unmittelbar Ausführenden: Einsatzkommandos, Wehrmachtseinheiten, Hilfspolizei, Personal der Vernichtungs- und Arbeitslager und andere, darunter zahlreiche Angehörige ausländischer Einheiten.
  3. Mitarbeiter staatlicher Behörden, Verwaltungen und Ämter in Deutschland und vielen anderen Ländern, die die Verfolgung, Enteignung und Deportationen der Juden planten, organisierten und durchführten.
  4. Unzählige Menschen in allen betroffenen Ländern, die von der Verfolgung und Ermordung der Juden auf unterschiedliche Art profitierten.
  5. Wirtschaftsbetriebe, die vom jüdischen Eigentum und von der Arbeitskraft der Häftlinge profitierten.
  6. Unterlassene Hilfeleistung: Regierungen und Öffentlichkeit in demokratischen Ländern. Konferenz von Evian. Antisemitismus im amerikanischen State Department.


Götz Aly: Europa gegen die Juden 1880 – 1945, Frankfurt 2017.
Holocaust als europäisches Projekt: „Der Holocaust ist eben ganz zweifellos also der Tiefpunkt der deutschen Geschichte, aber es ist auch ein Tiefpunkt der europäischen Geschichte. (Götz Aly) Die Vernichtung der europäischen Juden war ein deutscher Plan und wurde von Deutschen organisiert. Aber ohne „die vielen arbeitsteilig helfenden Verwaltungsbeamten, Polizisten, Politiker und tausende einheimische Mordgesellen in manchen Staaten hätte sich das monströse Projekt nicht mit der atemberaubenden Geschwindigkeit verwirklichen lassen. Der Holocaust kann weder in seinen schnellen noch in seinen stockenden Abläufen begriffen werden, wenn man nur die deutschen Kommandozentralen im Blick hat“.

Frank Bajohr, Historiker und wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München: „Erstens reicht die klassische Unterscheidung zwischen Täter, Opfer und Bystander für eine europäische Gesellschaftsgeschichte des Holocausts nicht mehr aus. Zweitens wirft die Verlagerung der Perspektive nach Osteuropa ungelöste Grundfragen der Kontextualisierung des NS-Judenmords auf. Drittens wandelt sich in der historiografischen Rekonstruktion die Shoah zunehmend von einem von Deutschland ausgehenden Völkermord zu einem europäischen Projekt. Damit stellt sich verstärkt die Frage nach dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie in der Entwicklung des Holocaust.“

(Vortrag „Vom Zentrum zur Peripherie? Neuere Tendenzen der Holocaust-Forschung“ im Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien am 14.1.2016)

Fallbeispiele:

  • das Massaker von Jedwabne in Polen am 10. Juli 1941.
  • Die Rolle der „Kolonne Henneicke“ in den Niederlanden 1942-43.
     

Tatort

Die Vernichtung der Juden fand zum größten Teil in Osteuropa statt.

Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011

Holocaust wird mit den Vernichtungslagern – den „Todesfabriken“ – assoziiert, vor allem mit Auschwitz.

Patrick Desbois (geb. 1955) und seine Organisation Yahad – In Unum: Viele Tausende von Orten der Massenmorde in Osteuropa wurden identifiziert.
 

Motive

  1. Der konsistente, fanatische „Erlösungsantisemitismus“ (Saul Friedländer) Hitlers und seiner Anhänger. Ideologie der Erlösung beinhaltet das Bild einer jüdischen Weltverschwörung, deren Ziel die Knechtung Deutschlands und letztlich die Weltherrschaft sei – eine Gefahr für Deutschland, aber auch eine globale Gefahr, die abgewehrt werden muss, um Deutschland und die Welt zu retten. Saul Friedländer betont die ideologische Konstante in Hitlers Denken: Er habe daran geglaubt, die Welt von „dem Juden“ als dem absolut Bösen befreien zu müssen. Die „Endlösung“ sei somit als Versuch einer globalen Erlösung zu deuten.
     
  2. Holocaust als Raubmord. Der gesamte Besitz der Juden wurde geraubt. Davon profitierten die beteiligten Staaten sowie Banken, Unternehmen und unzählige Einzelpersonen.
     
  3. Neid und Hass auf den Erfolg der Juden (Götz Aly) „In Berlin haben jüdische Jungs und Mädchen zu 65 Prozent einen höheren Schulabschluss (...) gehabt, aber nur fünf Prozent der christlichen Kinder. Und diese Bildungsdifferenz finden sie überall in Osteuropa, es war in Russland genauso… Aus Schwäche erwuchsen zuerst Sehnsucht nach kollektiver Stärke, dann Rassendünkel und am Ende mörderischer Antisemitismus.“

    Erniedrigungen der Opfer:
    „Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten, hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männer- und Weiberkehlen, das tage- und nächtelang weiterschrillte. Und alle Menschen verloren ihr Gesicht, glichen verzerrten Fratzen: die einen in Angst, die andren in Lüge, die andren in wildem, haßerfülltem Triumph. […] Ich erlebte die ersten Tage der Naziherrschaft in Berlin. Nichts davon war mit diesen Tagen in Wien zu vergleichen. […] Was hier entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Mißgunst, der Verbitterung, der blinden, böswilligen Rachsucht – und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt.“ (Carl Zuckmayer)
     
  4. Integrative Wirkung: Gewalt gegen Juden diente als Mittel der sozialen Integration innerhalb der deutschen Gesellschaft, aber auch als Mittel der europäischen Integration.
     

Strafe

Nur ein geringer Teil der Verantwortlichen wurde bestraft. Heutige Gerichtsprozesse mit über 90jährigen ehemaligen SS-Angehörigen können die weitgehende Straffreiheit von Hunderttausenden von Tätern nicht ersetzen.

Fallbeispiel: Bruno Melmer (1909–1982), SS-Hauptsturmführer, verantwortlich für das Gold der ermordeten Juden aus den Vernichtungslagern. Er wurde 1948 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt.

Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 war der erste Gerichtsprozess überhaupt, bei dem die Verbrechen des Holocaust im Mittelpunkt standen. Eichmann wurde zum Tod verurteilt und 1962 gehängt.
Auschwitzprozesse in Frankfurt am Main 1963 wurden durch die langjährigen Ermittlungen von Fritz Bauer (1903–1968) ermöglicht.

Wiedergutmachungszahlungen: Bis Ende 2010 erbrachte die Bundesrepublik rund 68 Milliarden Euro an Entschädigungen für NS-Unrecht, darunter lebenslange Renten für Holocaust-Überlebende in Israel. Diese Summe stellt nur einen kleinen Teil des einst geraubten jüdischen Vermögens dar.
 

Jüdische Perspektive

Der Historiker Benzion Netaniyahu (1910–2012): „Holocaust in jeder Generation“. Gemeint ist die Kontinuität des Vernichtungsdenkens in der Geschichte. Die Möglichkeit eines neuen Holocaust gehört zur jüdischen Zukunft.

„Es sind nicht Israel und der Zionismus, die diesen außergewöhnlichen Sachverhalt geschaffen haben, den wir als Nahostkonflikt zu bezeichnen pflegen, denn es gibt viele nationale Bewegungen und Dutzende neuer Staaten, die den Vereinten Nationen seit ihrer Gründung beigetreten sind. Das einzig Außergewöhnliche, das den jüdischen Staat zum Ausnahmestaat macht, ist der unablässige Aufruf, ihn zu zerstören. Dies galt 1948 und 1967; dies gilt mit Einschränkung auch noch jetzt. Kein anderer Staat der Welt ist mit dem Aufruf, ihn zu zerstören, konfrontiert.“ (Matthias Küntzel)

„Im Mai 1967 sah ich mir die Nachrichten gemeinsam mit meinem Vater an – einem Holocaust-Überlebenden aus Ungarn, den diese Erfahrung nie verließ. Wir sahen Massen von Demonstranten, die „Vernichtet Israel!“ skandierten und Fahnen mit Todesschädeln und gekreuzten Knochen schwangen. Dies machte auf mich, ich war damals 14, einen tiefen Eindruck. Mein Vater und ich hatten dieselbe Furcht, dass eine Variante des Holocaust erneut geschehen könnte. Dieses Gefühl beherrschte damals die jüdische Welt zwischen Moskau und Tel Aviv.“ (Yossi Klein Halevi)

Jüdischer Widerstand spielt in der jüdischen Perspektive eine wichtige Rolle. Der Handlungsspielraum des Opfers ist gering. Dennoch viele Fälle von Widerstand in aussichtslosen Situationen.
 

Literatur

  • Götz Aly: Europa gegen die Juden 1880 – 1945, Frankfurt 2017.
  • Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011
  • Patrick Desbois: Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen Juden. Eine Spurensuche, Berlin 2009, die englische Ausgabe: Father Patrick Desbois: The Holocaust by Bullets: A Priest's Journey to Uncover the Truth Behind the Murder of 1.5 Million Jews, New York 2008.
  • Arno Lustiger: Zum Kampf auf Leben und Tod! Vom Widerstand der Juden in Europa 1933-1945, Köln 1994