Das Thema Holocaust in Werken westlicher Komponisten der Nachkriegszeit

Die künstlerische Auseinandersetzung mit der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden spiegelt die Rezeption des Holocaust in der westlichen Gesellschaft wider.

Sophie Fetthauer: Eine Liste mit Musikwerken der Holocaustrezeption (2004)

Überwiegend westliche Komponisten wurden hier berücksichtigt.

„Thematisch befassen sich die Werke in ganz unterschiedlicher Weise mit dem Holocaust. Einzelne Konzentrationslager wie Auschwitz oder Mauthausen, Ghettos und Orte von Massakern wie Babi Yar sind Bezugspunkte der Werke ebenso wie Einzelpersonen, etwa Anne Frank oder Janusz Korczak, oder bestimmte Tage, wie die Reichspogromnacht oder die Befreiungstage von Lagern. Andere Werke wiederum behandeln einzelne Aspekte des Holocaust, etwa den Widerstand, die Deportationen, die Deportationszüge, die Folter oder das Phänomen von Musik im KZ. Auch allgemeinere Themen wie die Erinnerung, das Leiden oder die Trauer werden aufgegriffen. Es gibt zudem Texte, die wiederholt Grundlage für Vertonungen sind. Das gilt grundsätzlich für Texte von Holocaustüberlebenden und im speziellen für das Anne Frank Tagebuch, die Gedichtsammlung I Never Saw Another Butterfly von Kindern aus dem Lager Theresienstadt und Gedichte von Nelly Sachs. Oft wird auch auf Texte der Bibel oder der jüdischen Liturgie zurückgegriffen. Viele Werke enthalten Widmungen an die Opfer des Holocaust. Diese reichen von Widmungen für Einzelpersonen, z.B. Anne Frank, über solche für einzelne Gruppen von Opfern, etwa die polnischen Opfer, die Opfer bestimmter Konzentrationslager oder die in den KZs getöteten Kinder, bis hin zu Widmungen für sämtliche Opfer des Holocaust. Eine Reihe von Werken erhält offizielle Funktionen, etwa beim Holocaust-Gedenktag in Israel, oder religiöse Funktionen am Sabbath oder als Kaddish.“ (Sophie Fetthauer)

http://sophie.fetthauer.de/projekte
 

Karl Amadeus Hartmann (1905–1963): Streichquartett Nr. 1 „Carillon“

Mehrere Werke Hartmanns sind eine zeitnahe Reflexion auf die Judenverfolgung.  

1933 schrieb er sein 1. Streichquartett mit der Anmerkung „bei der ersten Judenverfolgung“ Eine weitere Anmerkung lautet: „Das Thema vom Fugato des 1. Satzes ist ein jüdisches Volkslied.“ Die gleiche jüdische Melodie wurde später in seiner Oper „Des Simplicius Simplicissimus Jugend“ (1935) benutzt.

Hartmann brach seine vielversprechend begonnene Karriere ab und zog sich nach 1933 aus dem deutschen öffentlichen Musikleben zurück. Seine Werke wurden fortan ausschließlich im Ausland aufgeführt.

Sein Orchesterwerk „Poème symphonique Miserae“ (1933/34) trägt die Widmung: „Meinen Freunden, die hundertfach sterben mußten, die für die Ewigkeit schlafen – wir vergessen Euch nicht (Dachau 1933/34)“. Später ergänzte er, dass dieses Werk „zum Gedenken damaliger politischer und jüdischer Verfolgter, die in Dachau ermordet wurden“ geschrieben ist.

https://www.youtube.com/watch?v=oRC_tzlkm7E
 

Karl Amadeus Hartmann: Klaviersonate „27. April 1945“

Der Impuls zur Komposition der Sonate war der Todesmarsch der Häftlinge von Dachau, den Hartmann Ende April 1945 erlebte. Das Manuskript der Sonate enthält folgende Anmerkung: „Am 27. und 28. April 1945 schleppte sich ein Menschenstrom von Dachauer ‚Schutzhäftlingen‘ an uns vorüber – unendlich war der Strom – unendlich war das Elend – unendlich war das Leid – .“

Die programmatischen Absichten des Komponisten werden durch einige Zitate deutlich:  „Die Internationale“, Beethovens „Les Adieux“-Sonate sowie Motive der Sozialistenhymne „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ und der jüdischen Liturgie.

„Ein Mensch und besonders ein Künstler darf nicht in den grauen Alltag hineinleben, ohne gesprochen zu haben. Meine Musik wurde in letzter Zeit oft Bekenntnismusik genannt. Ich sehe darin eine Bestätigung meines künstlerischen Wollens. Es kam mir darauf an, meine humane Lebensauffassung in einem künstlerischen Organismus spürbar werden zu lassen.“ (Karl Amadeus Hartmann)

Die Sonate wurde erst 1988, beim „III. Internationalen Musikfest für Humanität, Frieden und Völkerfreundschaft“ in Leningrad zum ersten Mal vollständig öffentlich gespielt.

https://www.youtube.com/watch?v=_8rvrErAM2M
 

Kurt Weill (1900-1950): We Will Never Die (1943)

Musik für das zionistische Propaganda- und Massenspiel We Will Never Die (1943).

Das Theaterprojekt wurde von der jüdisch-palästinensischen Untergrundorganisation „Irgun zwai leummi“ (hebr.: Nationale Militärorganisation), bekannt auch als „Irgun“ oder „Ezel“, initiiert. Irgun war 1931 in Jerusalem gegründet worden, seine aktive Tätigkeit begann in Palästina 1937 im Zusammenhang mit der Eskalation des arabischen Terrors. Die Organisation lehnte die Politik der „Selbstbeherrschung“ (chawlaga) ab, die die Leitung des Jischuw damals praktizierte, und führte militärische Aktionen gegen die Araber durch. In ideologischer Hinsicht schloss sie sich der zionistisch-revisionistischen Partei von Vladimir (Ze’ev) Jabotinsky an. Nach 1944 organisierte Irgun eine Reihe spektakulärer Terroranschläge gegen die britische Besatzung, viele seiner Mitglieder wurden von den Engländern verhaftet und hingerichtet. Irgun war außerdem, ebenfalls wie einige andere zionistische Verbände, an der Organisation der illegalen Immigration nach Palästina beteiligt. Einer seiner Emissäre, Hillel Kook (1915-2001), wurde kurz vor dem Beginn des 2. Weltkrieges zu diesem Zweck nach Polen geschickt. Er nahm dort das Pseudonym Peter Bergson an. 1939 kam Kook/Bergson in die USA. Dort versuchte er eine jüdische Armee zu organisieren, die gegen Nazi-Deutschland kämpfen sollte. Nachdem 1942 die ersten Informationen über das Ausmaß der Judenvernichtung in die USA gelangten, widmete sich Bergson hauptsächlich der Rettung der europäischen Juden. Gegen den Widerstand des amerikanisch-jüdischen Establishments, das aus Angst vor Antisemitismus die jüdische Frage in der Öffentlichkeit nur sehr vorsichtig behandelte, startete Bergson eine massive propagandistische Kampagne, die die Aufmerksamkeit der breiten Schichten der amerikanischen Gesellschaft auf das Schicksal der Juden in Europa ziehen und dadurch politische Entscheidungen beeinflussen sollte. Diese Bemühungen resultierten schließlich in der Gründung eines staatlichen War Refugee Board, das am Ende des Krieges eine eminente Rolle bei der Rettung von einer großen Zahl ungarischer Juden spielte. Zu den Aktionen, die Bergson und seine aus vier weiteren Irgun-Mitgliedern bestehende Gruppe organisierten, gehörten unter anderem große provokative Zeitungsannoncen, ein Marsch zum Weißen Haus, an dem 400 orthodoxe Rabbiner teilnahmen, und andere politische Demonstrationen, sowie propagandistische Theateraufführungen. Im Januar 1943 besuchte Jitzchak Ben-Ami, ein Mitglied der Bergson-Gruppe, den berühmten Dramatiker und Hollywood-Drehbuchautor Ben Hecht (1893-1954), der sich seit 1941 aktiv für Irgun und seine legale Ableger wie „Committee for a Jewish Army“ oder „American League for a Free Palestine“ engagierte.

Sie entwarfen ein spektakuläres Theater-Projekt, das das amerikanische Publikum aufrütteln und gleichzeitig die Engländer auffordern sollte, Palästina für verfolgte Juden zu öffnen. Die ganze Vorbereitung dauerte weniger als 2 Monate: die Premiere von We Will Never Die fand bereits am 9. März 1943 statt. Das Massenspiel bestand aus drei Teilen: der erste schilderte die Geschichte der Juden und ihre Verdienste (The Roll Call), der zweite den heldenhaften Kampf jüdischer Soldaten gegen die Nazis an verschiedenen Fronten des Kriegs (The Jew in War), im dritten Teil kamen die Opfer der Shoa zu Wort, die über die Ermordung der Juden berichteten (Remember Us). Die beiden Aufführungen im ausverkauften Madison Square Garden in New York besuchten 40 000 Menschen, danach wurde das Stück in 5 weiteren Großstädten gezeigt. Bei der Aufführung in Washington waren die First Lady Eleanor Roosevelt, sechs Mitglieder des Supreme Court und etwa 300 Kongress-Abgeordnete, sowie viele Diplomaten und Militärs anwesend. Millionen Amerikaner konnten das Schauspiel durch die Radio-Übertragung der Aufführung in Los Angeles hören. Diese Aufführung, die im Juli 1943 stattfand, schloss einen zusätzlichen Teil ein: The Battle of Warsaw. Darin wurde der Aufstand im Warschauer Ghetto beschrieben, der erst einige wenige Wochen zurücklag!

Kurt Weill gehörte zu den wichtigsten Mitarbeitern Hechts, welcher ihn in seinen Memoiren als seinen „Irgun friend“ bezeichnete. Auch wenn eine formale Mitgliedschaft Weills in der Organisation wenig wahrscheinlich erscheint, galten seine Sympathien zweifellos der aktivistischen Einstellung von Irgun, der damals als beinahe einzige jüdische Gruppe in Amerika zu realen Taten fähig war.

Weills Bühnenmusik zu We Will Never Die basierte im Wesentlichen auf der vierten Szene seines Eternal Road. Zusätzlich fügte der Komponist eine Reihe von jüdischen religiösen und nationalen musikalischen Symbolen hinzu, wie Hatikwa, die Chanukka-Hymne Maos Zur, Kol nidre, Sch’ma Israel, sowie traditionelle Schofar-Rufe.
 

Arnold Schönberg (1974-1951): Ein Überlebender aus Warschau

Originaltitel: A Survivor from Warsaw für einen Sprecher, Männerchor und Orchester op. 46, komponiert 1947 im Auftrag der Koussevitzky Foundation. Die vollständige partitur wurde nach Schönbergs Angaben von René Leibowitz fertiggestellt.

„Dieser Text basiert teilweise auf Berichten, die ich direkt oder indirekt erhalten habe.” (Arnold Schönberg)

„Nun; was der Text des Überlebenden für mich bedeutet: er stellt zuerst eine Warnung an alle Juden dar, nie zu vergessen, was uns angetan wurde, nie zu vergessen, dass selbst Menschen, die selbst keine Täter waren, diesen zustimmten und viele von ihnen es für notwendig hielten, uns so zu behandeln. Wir sollten dies nie vergessen, selbst wenn solche Dinge nicht genau in der im Überlebenden beschriebenen Art getan wurden. Dies spielt keine Rolle. Der Hauptpunkt ist, dass ich es in meiner Vorstellung sah.“ (Arnold Schönberg in einem Brief an Kurt List 1948)

Die Komposition besteht aus drei Teilen:

  1. instrumentale Einleitung
  2. Erzählung des Sprechers
  3. der Schlusschor mit dem Gebet Schma Jisrael.


Deutsche Übersetzung des Texts:

An das Meiste kann ich mich nicht erinnern - ich muß lange bewußtlos gewesen sein.

Ich besinne mich nur auf den großen Moment, da alle - wie auf Vereinbarung - das alte, so lange Jahre vernachlässigte Gebet anstimmten - das vergessene Glaubensbekenntnis.
Aber es ist mir unbegreiflich, wie ich unter die Erde geriet in Warschaus Abflußkanälen so lange Zeit leben konnte.

Der Tag begann wie gewöhnlich. Wecken noch vor dem Morgengrauen. Heraus, ob ihr schliefet oder ob eure Sorgen euch die ganze Nacht wachhielten: Ihr wurdet getrennt von euren Kindern, von eurer Frau, von euren Eltern, ihr wißt nicht, was ihnen geschah. Wie könntet ihr schlafen!

Wieder die Fanfaren: „Kommt ´raus! Der Feldwebel wird wütend!“ Sie kamen, manche langsam, die Alten, die Kranken, manche mit eiligen Schritten. Sie fürchten den Feldwebel. Sie rennen so gut sie können. Umsonst! Viel zu viel Lärm! Viel zu viel Bewegung und nicht schnell genug!  

Der Feldwebel brüllt: „Achtung! Stilljestanden! Na wird´s mal, oder soll ich mit dem Jewehrkolben nachhelfen? Na jut, wenn ihr´s durchaus haben wollt!“

Der Feldwebel und seine Soldaten schlagen jeden: Jung und alt, stark und krank, schuldig und unschuldig - es war furchtbar, das Klagen und Stöhnen zu hören.

Ich hörte es, obgleich ich sehr geschlagen worden war - so sehr, daß ich umfiel. Wir alle, die nicht aufstehen konnten, wurden nun über den Kopf geschlagen.

Ich war wohl besinnungslos. Als Nächstes hörte ich einen Soldaten sagen: „Alle sind tot!“ und danach des Feldwebels Befehl, uns fortzuschaffen.

Ich lag abseits - halb bewußtlos. Es war sehr still geworden - Angst und Schmerz - dann hörte ich des Feldwebels „Abzählen!“.

Sie begannen langsam und unregelmäßig: Eins, zwei, drei, vier. „Achtung“ rief der Feldwebel wieder. „Rascher!“ Nochmal von vorn anfangen! In einer Minute will ich wissen, wieviele ich zur Gaskammer abliefere! Abzählen!“

Und nochmals begannen sie, erst langsam: eins, zwei, drei, vier, nun ging es immer schneller, so schnell, daß es schließlich wie das Stampfen wilder Rosse klang, und dann auf einmal - ganz plötzlich mittendrin - fingen sie an das Schema Israel  zu singen.

https://www.youtube.com/watch?v=DFXkc9AGoeU
 

Luigi Nono (1924-1990): Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz (1966)

„Gedenke dessen, was sie dir in Auschwitz angetan haben.“

Nono knüpfte in seinem ersten in Darmstadt präsentierten Werk an die Kantate von Schönberg an: 1950 wurden dort seine „Kanonische Variationen über die Reihe in op. 41 (,Ein Überlebender aus Warschau’) von Arnold Schönberg“ unter Hermann Scherchens Leitung uraufgeführt. 1955 heiratete er Schönbergs Tochter Nuria, die er im Jahr zuvor in Hamburg bei der Uraufführung der Oper Moses und Aron ihres Vaters kennenlernte. Luigi Nonos Tonbandkomposition „Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz“ ist das Konzentrat einer Bühnenmusik, die der Komponist 1965 für das Theaterstück „Die Ermittlung“ von Peter Weiss erstellte. Dieses Stück basierte auf den sogenannten Auschwitz-Prozessen Frankfurt am Main 1963/64.

Während der Holocaust für Schönberg „eine Warnung an alle Juden dar, nie zu vergessen, was uns angetan wurde“ war, ist er für Pater Weiss (und Nono) eine Art Universalverbrechen, der die ganze Menschheit angeht. Im gesamten Stück von Weiss kommt das Wort „Jude“ nicht vor, während alle anderen Gruppen von Verfolgten namentlich genannt sind. Es wird lediglich das rassistische Motiv des Massenmords erwähnt.

Der Holocaust dient als Vorwand für die linke Kapitalismus-Kritik: „Wir kannten alle die Gesellschaft, aus der das Regime hervorgegangen war, das solche Lager erzeugen konnte. Die Ordnung, die hier galt, war uns in ihrer Anlage vertraut, deshalb konnten wir uns auch zurechtfinden in ihrer letzten Konsequenz, in der der Ausbeutende in bisher unbekanntem Grad seine Herrschaft entwickeln durfte und der Ausgebeutete noch sein Knochenmehl liefern musste.“

https://www.youtube.com/watch?v=-z-IUbwaMC0
 

Krzysztof Penderecki (geb. 1933): Kaddisz

Pendereckis Musik wie auch die Musik der polnischen Avantgarde insgesamt gehört zur Entwicklung der westlichen modernen Musik, auch wenn das Land Polen Teil des Ostblocks war.
Penderecki setzte sich mehrfach mit dem Thema Holocaust auseinander:

  • Das Hörspiel „Brygada Smierci“ (Die Todesbrigade) (1964)
  • „Dies Irae“, Oratorium zum Gedächtnis der Opfer von Auschwitz für Sopran, Tenor, Bass, gemischten Chor und Orchester (1967): eine Reaktion auf den Holocaust aus christlicher Sicht.
  • Kadisz (2009), auf Texte von Abraham Cytryn, aus den Klageliedern Jeremias, aus dem Buch Daniel und des hebräischen Kaddisch für Sopran, Tenor, Sprecher, Männerchor und Orchester


Krzysztof Penderecki komponierte das Werk anlässlich des 65. Jahrestages der Liquidation des jüdischen Ghettos Łódź. Im ersten Satz ist ein Poem des damals fünfzehnjährigen Ghettobewohners Abraham Cytryn verwendet. Im Gegensatz zum Oratorium „Dies irae“ versucht Penderecki hier die jüdische Sicht wiederzugeben. Der letzte Satz basiert auf dem authentischen Text des Kaddisch-Gebets. Keine offen christlichen Bezüge sind zu finden.
 

Leonard Cohen (1934-2016): Dance Me to the End Of Love (1984)

Das Judentum spielt in Cohens Werk eine besondere Rolle, es zieht sich wie ein roter Faden durch seine Texte. Es ist Cohens geistige Heimat, ein zu Hause, zu dem er immer wieder zurückkehrte, auch wenn für ihn auf seiner spirituellen Wanderschaft auch andere Sphären – vor allem der Buddhismus – bedeutsam waren. Beginnend spätestens mit der „Story Of Isaac“ von 1969 durchdringen jüdische Bilder und Motive Cohens Schaffen. Sein Judentum musste er weder erkämpfen, noch dagegen ankämpfen, es war ein natürlicher Teil seiner Identität, wie es nur bei wenigen großen jüdischen Künstlern der Fall war, darunter sein Namensvetter Leonard Bernstein. Unvergessen ist der priesterliche Segen, den Leonard Cohen, aus einer Kohanim-Familie stammend, 2009 den mehr als 50 000 Besuchern seines Konzerts in Tel Aviv spendete. Ebenso unvergessen sind seine Songs wie „Who by Fire“, eine persönliche Version des Jom-Kippur-Gebets „Unetaneh tokef“, oder das berühmte „Hallelujah“. Viele seiner Songs sind ohne ihre jüdischen Bezüge gar nicht in ihrer Tiefe zu erfassen. Auf dem vorliegenden Album gehören nicht nur „Puppets“ mit dem Thema Holocaust dazu, sondern auch Songs, in denen das Jüdische nicht offen benannt wird, darunter „It’s torn“, der ans jüdische Motiv der zerrissenen Kleidung aus dem Trauerritual anknüpft und es zu einer Vision einer zerrissenen Welt entwickelt. Auch Gott selbst ist nicht davon ausgenommen, „in der Höhe vom Königreich bis zur Krone zerrissen“. Dabei werden Zitate und Paraphrasen wie etwa aus dem Psalm 22 – „Warum hast du uns verlassen?” – oder aus dem täglichen Gebet Amida – „Komm und sammle die verstreuten und verlorenen Teile“ – mit subtilen Andeutungen und biblischen Bildern kombiniert. Solche Texte sollten genauso wie Werke Franz Kafkas oder Paul Celans auch als jüdische Dichtung gelesen werden.

Das Lied „Dance Me to the End Of Love“ ist äußerlich als Liebeslied gestaltet, es wurde aber vom Holocaust inspiriert, wie Leonard Cohen in einem Interview berichtete:

„Es ist merkwürdig, wie Songs anfangen, denn der Ursprung des Songs, jedes Songs, hat eine Art Körnung oder Samen, die jemand dir oder der Welt übergibt, und deshalb ist der Prozess beim Schreiben eines Songs so mysteriös. Aber dieses kam davon, dass in den Todeslagern neben den Krematorien – in manchen der Todeslager – ein Streichquartett zum Spielen gezwungen wurde, während dieser Schrecken vor sich ging, das waren die Menschen, deren Schicksal dieser Schrecken auch war. Und sie spielten klassische Musik, während ihre Mitgefangenen getötet und verbrannt wurden. Also, diese Musik, „Tanz mich zu deiner Schönheit mit einer brennenden Geige“, bedeutet die Schönheit als Vollendung des Lebens, das Ende dieser Existenz und des leidenschaftlichen Elements in dieser Vollendung. Aber es ist dieselbe Sprache, die wir verwenden, um uns dem geliebten Menschen zu ergeben, so dass der Song – es ist nicht wichtig, dass irgendjemand die Entstehung davon kennt, – denn wenn die Sprache aus dieser leidenschaftlichen Quelle stammt, wird sie fähig sein, alles Leidenschaftliche auszudrücken.“

https://www.youtube.com/watch?v=1N07cnoboCY
 

Literatur

  • Matthias Kontarsky: Trauma Auschwitz. Zu Verarbeitungen des Nichtverarbeitbaren bei Peter Weiss, Luigi Nono und Paul Dessau, Pfau Verlag, 2001
  • Alexander L. Ringer: Arnold Schönberg: Das Leben im Werk, Stuttgart 2002
  • Ulrich Dibelius: Karl Amadeus Hartmann. Komponist im Widerstreit, Kassel 2004
  • Jascha Nemtsov: Der Zionismus in der Musik, Wiesbaden 2009