Aufarbeitung, Erinnerung und Gedenkkultur. Wiederentdeckung und Aufarbeitung in der Musikwissenschaft und im Musikleben

„Die zunehmende Dominanz der Juden in repräsentativen gesellschaftlichen Bereichen war den Deutschen unheimlich. Dass sie mit der Vertreibung und Ermordung ihrer jüdischen Mitbürger etwas verloren hätten, gar ein Stück ihrer selbst, ihrer eigenen Identität, kam jedenfalls den meisten nicht in den Sinn. So schlug das Verschwinden der Juden den Deutschen im Allgemeinen nicht aufs Gemüt, wenn es nicht sogar als Erleichterung empfunden wurde. Und Trauer konnte sich bei ihnen auch nach 1945 nicht einstellen, da sie in der Regel gar kein Gefühl des Verlusts hatten. Das deutsche Judentum ist ein Toter, der nicht bestattet und beklagt wurde.“ (Dieter Borchmeyer)

1945: die „Stunde Null“?

Der Mythos von der ‚Stunde Null‘ diente dazu, die Kontinuität der Eliten zu verschleiern: Das Täterkollektiv wollte damit so tun, „als sei nun alles anders“. (Die Philosophin Steffi Hobuß von der Leuphana Universität Lüneburg)

„Es gab keine Stunde Null. Das ist eine Erfindung gewisser Historiker. Es ging alles so weiter wie bisher, nur mit mehr oder weniger ausgeprägter Tarnung. Ein gutes Beispiel ist Karajans Lüge über seinen Parteieintritt.“ (Fred K. Prieberg)

Eigentlich gab es die Stunde Null nur für die Juden. Für die Überlebenden war das ein kompletter Neuanfang, weil sie alles verloren haben. Sie haben aber schnell festgestellt, dass ihre Nachbarn nicht begeistert waren, dass sie zurückkamen. Besonders schlimm waren die Anfeindungen in Osteuropa, wo es so Pogromen mit vielen Toten kam. Aber auch im Westen war die Ablehnung groß, insbesondere wenn es darum ging, das gestohlene Eigentum zurückzugeben. Der Film „Menschliches Versagen“.

Die Situation auf dem kulturellen Gebiet:

Der Fall Erich Schenk (1902-1974), Professor am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien: „Mit Juden gebe ich mich nicht ab!“

Antisemitismus in der Kirche:

„Die Erwählung Israels ist durch und seit Christus auf die Kirche aus allen Völkern, Juden und Heiden, übergegangen... Israel unter dem Gericht ist die unaufhörliche Bestätigung der Wahrheit, Wirklichkeit des göttlichen Wortes und die stete Warnung Gottes an seine Gemeinde. Daß Gott nicht mit sich spotten läßt, ist die stumme Warnung den Juden zur Mahnung, ob sie sich nicht bekehren möchten zu dem, bei dem allein auch ihr Heil steht“
(aus der Erklärung des Bruderrates der Bekennenden Kirche aus dem Jahre 1948)

In einem Wort zur Judenfrage (im selben Jahr 1948) deutete die EKD-Leitung das „jüdische Schicksal“ ebenfalls als Strafe Gottes zur Warnung für Juden und als Mahnung an sie, Christen zu werden.

Die Kontinuität der Eliten galt auch im Musikbetrieb:

Die Komponisten Cesar Bresgen (1913-1988) und Siegfried Köhler (1927-1984)

Johannes Gross: „Je länger das Dritte Reich tot ist, umso stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.“
41 Prozent der Deutschen meinen laut einer Umfrage des Jüdischen Weltkongresses (WJC), dass Juden zu viel über den Holocaust reden: „Die Deutschen gehen sich selbst mit ihrer Erinnerungskultur auf die Nerven und geben dafür noch den Juden die Schuld.“
 

Beginn des Diskurses und die Bewegung der 1968er

Prozesse in Jerusalem (1961) und in Frankfurt (1963-64).

Die Bewegung der 1968er war die erste revolutionäre Bewegung seit der NS-Zeit. Revolte und Revolution.

Götz Aly: Unser Kampf: 1968 - ein irritierter Blick zurück, Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2009

Rudi Dutschke über eine Aufarbeitung des Holocaust: „Wenn wir das anfangen, verlieren wir unsere ganze Kraft. Eine solche Kampagne ist von unserer Generation nicht zu verkraften, aus dieser Geschichte kommen wir nicht mehr heraus. Man kann nicht gleichzeitig den Judenmord aufarbeiten und die Revolution machen. Wir müssen erst einmal etwas Positives gegen diese Vergangenheit setzen.“ (S. XIV)

„Mit Ausnahme von Herbert Marcuse reagierten praktisch alle Emigranten, die nach 1933 Deutschland hatten verlassen müssen, ähnlich: Zunächst freuten sie sich über die Unruhe der Jugend, aber schon nach wenigen Monaten erschraken sie vor dem deutschen Furor, der in den 68ern steckte, sich bald wild austobte und den sie nur allzu gut kannten.“ (S. V-VI)
 

Pioniere der Aufarbeitung: Joseph Wulff und Fred Prieberg

Joseph Wulf (1912-1974), Historiker, geboren in Chemnitz in einer aus Polen stammenden jüdischen Familie, Überlebender von Auschwitz.
Wulf lebte ab 1952 in Berlin. Seine Arbeiten sind bis heute eine wichtige und relevante Quelle.

Die Dokumentation Musik im Dritten Reich (1963)

„Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen tot dokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.“ (Joseph Wulff in einem Brief an seinen Sohn David im August 1974)

Im Oktober 1974 beging Wulff Selbstmord.


Fred K. Prieberg (1928-2010), Musikwissenschaftler.

Seine 1982 veröffentlichte Monografie Musik im NS-Staat war die erste systematische Darstellung der Musikgeschichte und des Musikbetriebes im Deutschland der NS-Zeit und gab den Anstoß zu weiteren musikwissenschaftlichen Forschungen auf dem bis dahin tabuisierten Gebiet. Prieberg widmete das Buch Joseph Wulff.

Musik und Macht (1991)

Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945 (2004) im Eigenverlag als elektronische Ressource auf einer CD-ROM.

Sein umfangreiches Archiv zur Musik des 20. Jahrhunderts mit ca. 1500 Bänden, 800 Tonträgern und 120 Aktenordnern mit biographischem Material zu Musikern wird vom Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Kiel verwaltet.
 

Entstehung der Erinnerungskultur

Das Gedenken war zunächst den Juden vorbehalten. Gedenktage: In Israel seit 1951, USA 1979, Deutschland 1996, Großbritannien: 2001, EU: 2005, UNO: 2005.

Bis 1978 wurde der Jahrestag des Pogroms am 9. November nur von Juden gedacht. 9. November 1969: linksextremistischer Terroranschlag auf das Jüdische Gemeindezentrum in Berlin. 1978 erster gemeinsamer Gedenkakt in der Synagoge in Köln. 9. November 1988: Erster DDR-Staatsakt zum 9. November.

Erst 1979 löste die im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlte US-Fernseheserie "Holocaust" eine breite gesellschaftliche Erschütterung und Empathie mit den Opfern des NS-Regimes aus.

Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985:
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“

Eine intensive Vergangenheitsbewältigung wurde ausgelöst. Auch [Wieder]entdeckung der musikalischen Kultur der Opfer. Musica reanimata (ab 1990).
 

Die Bewegung musica reanimata

Genannt nach dem gleichnamigen Berliner Verein, der Pionierarbeit auf diesem Gebiet leistete:

http://www.musica-reanimata.de/de/0120.verein.html

„Der 1990 gegründete gemeinnützige Verein musica reanimata e.V. möchte die Werke von NS-verfolgten Komponisten in das öffentliche Musikleben integrieren.

In den ersten Jahren widmete sich musica reanimata vorrangig den in Theresienstadt internierten und in den Todeslagern ermordeten Komponisten. Ihre Kompositionen waren damals noch weitgehend unbekannt, so dass Musikwissenschaftler, Verlage, Interpreten und Kulturveranstalter nur schwer Kenntnis davon erlangten. Inzwischen hat sich das Arbeitsgebiet auf den Bereich des Exils (USA, England, Südamerika, Australien usw.) erweitert, wobei nicht zuletzt die noch überlebenden Künstler berücksichtigt werden. Im Zentrum der Arbeit von musica reanimata stehen die Komponisten; daneben setzt sich der Verein auch dafür ein, die Erinnerung an Leben, Werk und Wirken NS-verfolgter Musiker, Musikpublizisten und Musikwissenschaftler ins öffentliche Bewusstsein zu bringen.“
 

Die heutige Gedenkkultur in Deutschland als identitätsstiftender Faktor

Verarbeitung auf individueller Ebene fand so gut wie nicht statt. Sie wirkt stattdessen umso intensiver als kollektive Vergangenheitsbewältigung. Ein großer Unterschied: das ist nicht nur leichter, sondern auch moralisch erhebend. Das Gewissen ist etwas Persönliches. Ein schlechtes Gewissen zu ertragen ist sehr schwer. Die Erinnerungskultur ohne schlechtes Gewissen.
Bundespräsident Joachim Gauck: „Keine deutsche Identität ohne Auschwitz“.

Das in Deutschland seit Jahrzehnten gepflegte Holocaust-Gedenken ist einerseits ehrenwert und in Anbetracht der deutschen Geschichte berechtigt. Auf der anderen Seite verstellt es aber jegliche authentische Perspektive auf das reale Judentum. Das Judentum kann weder auf dem Friedhof noch beim Gedenkritual verstanden werden. Das heutige jüdische Leben in Deutschland ist ebenfalls davon belastet und verzerrt, eine Normalität ist nicht in Sicht. Den Juden ist hierzulande eine seltsame Aufgabe zugewiesen: sie müssen die endgültige „Wiedergutwerdung“ der Deutschen beglaubigen – eine künstliche und falsche Rolle, die von jüdischen Funktionären bisweilen aber gern übernommen wird.

Joachim Gauck warnte 2006 in einem Vortrag davor, den Judenmord in eine Einzigartigkeit zu überhöhen, die ihn dem Verstehen und der Analyse seiner Ursachen entziehen würde: „Unübersehbar gibt es eine Tendenz der Entweltlichung des Holocausts. Das geschieht dann, wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird, die letztlich dem Verstehen und der Analyse entzogen ist. Offensichtlich suchen bestimmte Milieus postreligiöser Gesellschaften nach der Dimension der Absolutheit, nach dem Element des Erschauerns vor dem Unsagbaren. Da dem Nichtreligiösen das Summum Bonum – Gott – fehlt, tritt an dessen Stelle das absolute Böse, das den Betrachter erschauern lässt.

Das ist paradoxerweise ein psychischer Gewinn, der zudem noch einen weiteren Vorteil hat: Wer das Koordinatensystem religiöser Sinngebung verloren hat und unter einer gewissen Orientierungslosigkeit der Moderne litt, der gewann mit der Orientierung auf den Holocaust so etwas wie einen negativen Tiefpunkt (...) Würde der Holocaust aber in einer unheiligen Sakralität auf eine quasireligiöse Ebene entschwinden, wäre er vom Betrachter nur noch zu verdammen und zu verfluchen, nicht aber zu analysieren, zu erkennen und zu beschreiben. Wir würden nicht begreifen.“

Indem man etwas sakralisiert, entfernt man es aus dem rationalen Diskurs. Man kann es nicht verstehen und nichts daraus lernen. Jens Jessen: „Was außerhalb aller menschlichen Vorstellungskraft geschehen ist, unvergleichbar, unwiederholbar, einzigartig, muss und kann von niemandem auf sich bezogen werden.“ Leere Floskeln: „Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit“ etc. Die naive/infantile Vorstellung, dass die Welt aus guten und bösen Menschen besteht und dass die Bösen das Böse wollen. Das Denken in Gut und Böse erspart jegliche persönliche Auseinandersetzung: Mit den Tätern muss man sich nicht identifizieren, man kann sich dagegen mit den Opfern identifizieren. Die ganze Welle des Interesses für jüdische Kultur entstammt diesem Bedürfnis.

„Ein Schlussstrich wird nämlich nicht nur dort gezogen, wo man Auschwitz vergisst, sondern auch dort, wo man Auschwitz instrumentalisiert, weil man glaubt, Auschwitz gut genug verstanden zu haben, dass man es nun als Instrument der politischen Debatte nutzen kann.“ (Gerd Buurmann)