„Entartete Musik“ und Verfolgung jüdischer Musiker in Deutschland. Verfolgte jüdische Musiker in Weimar und Thüringen

Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Juden im deutschsprachigen Kulturraum Zugang zu allgemeiner Bildung bekamen, waren auch zahlreiche Musiker jüdischer Abstammung aus der deutschen Kultur nicht wegzudenken. Ihr Anteil am Musikleben stieg insbesondere im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts an. Komponisten und ausübende Künstler, Theoretiker und Musikschriftsteller, Verleger und Musikorganisatoren – auf jedem Gebiet sind unzählige Namen deutsch-jüdischer Musiker zu nennen, ohne die die Musikentwicklung völlig undenkbar gewesen wäre. Andererseits hatten viele jüdische Musiker bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unter den Auswirkungen des wachsenden rassischen Antisemitismus zu leiden, sie wurden schon vor der Nazizeit zunehmend diskriminiert. Nach der Machtergreifung Hitlers erlebte das Musikleben im Deutschen Reich, später auch in den annektierten bzw. besetzten Ländern Osteuropas durch antisemitische Verfolgungen einen beispiellosen Aderlass. Berufsverbot, Enteignung und Ausschluss aus dem öffentlichen Leben waren für Juden nur die ersten Schritte auf dem Weg zur planmäßigen Vernichtung.

Die Diskriminierung von Juden war in den 1920er-30er Jahren nicht nur in Deutschland, sondern in vielen anderen europäischen Ländern, vor allem in Osteuropa, fest verankert. Götz Aly: „Europa gegen die Juden“. Beispiele: in Litauen, Polen, Rumänien, Ungarn wurden rigide Quoten für Studium und Berufsausübung festgelegt, der Anteil jüdischer Ärzte, Anwälte, Unternehmer, Kaufleute sollte damit gesenkt werden. Grund dafür ist der Nationalismus mit Minderwertigkeitskomplexen: Man empfindet seine Schwäche, man muss sich schützen, weil man in einem freien und offenen Wettbewerb nicht in der Lage ist, sich zu behaupten. Man braucht Schutz, Quoten, der Staat soll das regeln. Die Überlegenheit der Juden auf intellektuellen Gebieten wurde gleichermaßen mit Diskriminierungsgesetzen und Gewaltaktionen bekämpft. Gleichstellungbeauftragte an Universitäten mussten aufpassen, dass die Quoten für Juden nicht überschritten wurden. Nach dem Krieg wurde eine systematische Diskriminierung im ganzen Ostblock, insbesondere aber in der Sowjetunion bis zur Wende praktiziert.

Das NS-Deutschland war Teil dieses judenfeindlichen Systems. Dort wurde allerdings eine radikale Lösung praktiziert: ein vollständiger Ausschluss der Juden aus dem kulturellen, akademischen und wirtschaftlichen Leben.

Ausschluss der Juden aus der Musikwirtschaft

Die Hamburger Musikwissenschaftlerin Sophie Fetthauer hat einen umfassenden Beitrag zu diesem Thema geleistet und die Arisierung der Musikverlage, sowie der wichtigsten Schallplattenfirma, der Deutsche Grammophon-Gesellschaft, untersucht.

Unter den Musikverlegern war Hans C. Sikorski besonders aktiv, der mit der Cautio Treuhand GmbH, einer regierungsnahen Treuhandgesellschaft, eng verbunden war. Diese war u.a. im Auftrag von Goebbels an der Übernahme von zahlreichen Zeitungsverlagen beteiligt. Seit 1935 beschäftigte sie sich auch mit der Arisierung von Musikverlagen. Sikorski wurde so zum Besitzer von bedeutenden „arisierten" Verlagen wie Benjamin, City, Rahter und Simrock. Nach dem Ausschluss Österreichs kamen mehrere Wiener Verlage dazu.

Der frühere Schott-Mitarbeiter Dr. Johannes Petschull profitierte von der Arisierung der Universal Edition Wien und noch zuvor des Verlag C. F. Peters in Leipzig.

Die Deutsche Grammophon-Gesellschaft wurde 1898 vom deutsch-jüdischen Unternehmer und Erfinder des Grammophons Emil Berliner sowie seinem Bruder Josef in Hannover gegründet. 1933 wurde sie als jüdisches Unternehmen eingestuft und bereits im selben Jahr arisiert. Sie wurde zum wichtigen Bestandteil der NS-Propagandamaschinerie.
 

Instrumente der staatlichen Kontrolle der Kultur

Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums wurde am 7. April 1933 erlassen und wurde als gesetzliche Grundlage bzw. Anlass für die Entlassung zahlreicher jüdischer Musiker aus staatlichen und privaten Institutionen benutzt, obwohl sie mehrheitlich gar keine Beamten waren.

Der gesamte Kulturbereich wurde verstaatlicht. Am 22. September 1933 wurde ein Reichskulturkammergesetz verabschiedet, mit dem die Gründung der Reichskulturkammer als Teil des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda unter Joseph Goebbels geregelt wurde.

Die Reichskulturkammer mit insgesamt ca. 250.000 Mitgliedern hatte sieben Abteilungen:

  • Reichsmusikkammer (die größte Abteilung mit über 170.000 Mitgliedern)
  • Reichsschrifttumskammer
  • Reichstheaterkammer
  • Reichsfilmkammer
  • Reichskammer der bildenden Künste
  • Reichspressekammer
  • Reichsrundfunkkammer

Hinter jedem System stehen Menschen, nichts geht automatisch. Die Verfolgung konnte ohne engagierte Persönlichkeiten nicht funktionieren.
 

Fallbeispiel: die Entlassung des Dirigenten und Komponisten Werner Seelig-Bass (1908-1988)

Die erfolgreiche Arbeit von Werner Seelig-Bass am Kasseler Staatlichen Theater, wo er seit 1930 als Kapellmeister tätig war, fand 1933 ein jähes Ende. Am 1. April erhielt er von dem kommissarischen Intendanten ein folgendes Schreiben: „Sehr geehrter Herr Seelig-Bass! Die augenblickliche Notlage erfordert es leider, dass ich Sie mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendieren muss. Die Ihnen gewährte Gage wird an der Hauptkasse ausgezahlt. Mit vorzüglicher Hochachtung [Unterschrift]“. Dieser kurze und trockene Brief verrät dennoch, dass der Intendant dem gefeuerten jüdischen Künstler eher zugeneigt war oder zumindest dass es ihm leid tat, Seelig-Bass zu entlassen. In der Tat stellte es sich wenige Tage später heraus, dass es für Entscheidungsträger an staatlichen Institutionen sogar unter den damaligen Umständen einen gewissen Spielraum gab.

Am 11. April 1933, als Seelig-Bass Kassel bereits verlassen hatte und sich im heimatlichen Brandenburg aufhielt, wurde ihm ein weiteres Schreiben des Intendanten zugestellt: „Sehr geehrter Herr Seelig-Bass! Die Ihnen am 1. April übermittelte Mitteilung, betreffend Auflösung des Dienstverhältnisses, wird hiermit zurückgezogen mit der Maßgabe, dass Sie vom gleichen Zeitpunkt, also vom 1. April 1933 ab bis zum Schluss der Spielzeit beurlaubt werden. Bis zur endgültigen Regelung wird Ihnen die volle Gage von unserer Hauptkasse weiter ausgezahlt werden. Mit vorzüglicher Hochachtung [Unterschrift]“. Es erübrigt sich zu betonen, welche Bedeutung diese Änderung für den arbeitslosen Musiker hatte. Später erzählte Seelig-Bass in einem Interview über seine Entlassung: „Der Abschied war umso schmerzlicher, als am Kasseler Theater eine sehr herzliche Atmosphäre und sogar der neue, von den Nationalsozialisten eingesetzte Intendant noch versuchte, mich zu halten – was natürlich nicht möglich war!“

Eine „endgültige Regelung“ wurde anscheinend erst im Herbst 1933 getroffen. Am 22. August 1935 bekam Seelig-Bass schließlich einen Bescheid des Präsidenten der Reichsmusikkammer Dr. Peter Raabe, der seinen Ausschluss aus dem deutschen Musikleben besiegelte: „Herrn Werner Seelig-Bass. Gemäß § 10 der I. Durchführungsverordnung zum Reichskulturkammergesetz vom 1. November 1933 (RGB 1.I – S. 797) lehne ich Ihren mir zur endgültigen Entscheidung vorgelegten Aufnahmeantrag ab, da Sie die nach der Reichskulturkammergesetzgebung erforderliche Eignung im Sinne der nationalsozialistischen Staatsführung nicht besitzen. Durch diese Entscheidung verlieren Sie mit sofortiger Wirkung das Recht zur weiteren Berufsausübung auf jedem zur Zuständigkeit der Reichsmusikkammer gehörenden Gebiete.“

Werner Seelig-Bass war dann 1933-1938 Dirigent am Jüdischen Kulturbund in Berlin, 1938 floh er in die USA.
 

Einige Protagonisten der Verfolgung jüdischer Musiker

Der Musikwissenschaftler Herbert Gerigk (1905–1996)

Im Vorwort zu dem 1940 in Berlin erschienenen „Lexikon der Juden in der Musik“ schrieb einer der Autoren, der Musikwissenschaftler Herbert Gerigk, mit Genugtuung: „Die Reinigung unseres Kultur- und damit auch unseres Musiklebens von allen jüdischen Elementen ist erfolgt. Klare gesetzliche Regelungen gewährleisten in Großdeutschland, dass der Jude auf den künstlerischen Gebieten weder als Ausübender noch als Erzeuger von Werken, weder als Schriftsteller noch als Verleger oder Unternehmer öffentlich tätig sein darf. Die Namen der ‚Größen’ aus der Zeit vom Weltkriegsende bis zur Neuordnung des Reiches sind versunken. Sie sind sogar so gründlich vergessen, dass beim zufälligen Wiederauftauchen eines solchen Namens mancher sich kaum entsinnen wird, dass es sich um einen berüchtigten früher viel genannten Juden handelt. Das wird gerade den Menschen der jungen Generation so ergehen, die jene Verfallszeit noch nicht bewusst miterlebten, die also von Anbe¬ginn ihrer Arbeit im Aufbau standen.“

(Theo Stengel und Herbert Gerigk: Lexikon der Juden in der Musik, Berlin 1940, S. 5)

Gerigk selbst erlebte übrigens „jene Verfallszeit“ – sprich: die Zeit der kulturellen Blüte in der Weimarer Republik – in Königsberg, wo er sein Universitätsstudium mit Promotion absolvierte und anschließend als Musikkritiker der „Ostpreußischen Zeitung“ tätig war. Diese Beschäftigung übte er später im „Völkischen Beobachter“ aus, bevor er es zu hohen Würden als „Leiter der Hauptstelle Musik beim Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“ im Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg brachte. In dieser Funktion war er unter anderem für den systematischen Raub von wertvollen Musikalien aus dem Besitz von verfolgten Juden in den von Deutschland besetzten europäischen Ländern. Nach dem Krieg arbeitete er wieder als Musikkritiker, dieses Mal bei den Dortmunder „Ruhr-Nachrichten“. Es ist leider festzustellen, dass Gerigk die Situation nicht so falsch einschätzte: viele, wenn nicht die meisten von den „früher viel genannten Juden“ sind mehr als 60 Jahre nach dem Holocaust in der Tat immer noch „gründlich vergessen“. Neben dem Auslöschen jüdischer Präsenz in der deutschen Musikkultur war auch das „Löschen“ der Erinnerung an den jüdischen Beitrag eine wichtige Intention der nationalsozialistischen Musikpolitik.
 

Der Dirigent, Musikwissenschaftler und Kirchenmusiker Fritz Stein (1879-1961)

Fritz Stein war eine bedeutende Musikerpersönlichkeit, er prägte viele Jahre lang das Musikleben in Thüringen mit. Ab 1906 wirkte er in Jena, u.a. als Musikdirektor der Jenaer Universität. Er war eng mit Max Reger befreundet und wurde 1914 als dessen Nachfolger zum Meininger Hofkapellmeister. Max Reger war der Taufpate der beiden Kinder von Stein.

1932 trat er dem Kampfbund für deutsche Kultur bei.

1933 wurde er Direktor der Staatlichen Musikhochschule in Berlin. Dabei hat er die sofortige Entlassung von jüdischen Professoren wie der Cellist Emanuel Feuermann oder der Pianist Leonid veranlasst.

Als Leiter der „Interessengemeinschaft für das deutsche Chorgesangswesen“ und später Leiter des Amtes für Chorwesen und Volksmusik der Reichsmusikkammer war Stein mitverantwortlich für die Gleichschaltung aller Chöre durch ihre Vereinigung in einem staatlich kontrollierten Dachverband. 1940 wurde sein Chorliederbuch für die Wehrmacht (Peters, Leipzig 1940) publiziert.

Am 30. Juli 1933 beantragte Stein eine beschleunigte Aufnahme in die NSDAP: „Ich kann ehrenwörtlich versichern, dass ich mit dem Herzen seit vielen Jahren der herrlichen Bewegung Adolf Hitlers zugetan war“.
 

Der Publizist und Kulturfunktionär Hans Severus Ziegler (1893-1978)

Ziegler wurde in Eisenach geboren und studierte in Jena, Greifswald und Cambridge.

Er schloss sich bereits Anfang der 1920er Jahre den völkischen Kreisen in Thüringen an.

Ab 1924 wurde er Herausgeber der Wochenzeitung Der Völkische, später der daraus entstandenen Tageszeitung Der Nationalsozialist. Ziegler war seit 1925 Mitglied der NSDAP und zwischen 1925 und 1931 stellvertretender NSDAP-Gauleiter im Gau Thüringen. 1930 bis 1931 diente er als Referent im thüringischen Volksbildungsministerium unter Wilhelm Frick tätig. Er erfand 1926 den Namen Hitler-Jugend für die NS-Jugendorganisation. Seit 1928 war er auch im Kampfbund für deutsche Kultur aktiv. Bereits 1930 – noch als stellvertretender Gauleiter – hatte Ziegler mit einem Erlass für das Land Thüringen unter dem Titel „Wider die Negerkultur, für deutsches Volkstum“ seine diesbezügliche Gesinnung offenbart. Nach 1933 fungierte er als Staatsrat und Mitglied der Staatsregierung von Thüringen, ab 1936 als Generalintendant des Deutschen Nationaltheaters in Weimar und Staatskommissar für die thüringischen Landestheater.

Ziegler war homosexuell, er bekam Schwierigkeiten nach dem „Röhm-Putsch“ 1934, als homosexuelle Kreise in der NSDAP und SA wegen der Nähe zu Röhm verfolgt wurden.

Im Rahmen der Reichsmusiktage 1938 in Düsseldorf initiierte und organisierte Hans Severus Ziegler die Ausstellung „Entartete Musik“, in der gegen Jazz, moderne Musik und die Musik von jüdischen Komponisten gehetzt wurde. Anschließend wurde die Ausstellung in Weimar, München und Wien gezeigt. In dieser Ausstellung, die politisch und organisatorisch vom Amt Rosenberg unterstützt wurde, waren nicht nur jüdische Komponisten angeprangert, die ohnehin schon längst aus dem deutschen Musikleben ausgeschlossen wurden, sondern auch etliche „arische“ Komponisten, die sogar treue NSDAP-Mitglieder waren, deren Musik aber den fundamentalistischen Auffassungen des KfdK widersprach. Darunter war beispielsweise der bekannte Komponist Hermann Reutter (1900–1985), ein Parteimitglied seit Mai 1933 und Direktor einer der wichtigsten musikalischen Ausbildungsstätten, des Frankfurter Hoch‘schen Konservatoriums, in den Jahren 1936-1945. Reutters Musik erschien Ziegler zu modern und somit „undeutsch“ und „entartet“. Die Stigmatisierung in der Ausstellung hatte für Reutters weitere Karriere jedoch keinerlei Konsequenzen. Er bekam nach wie vor Preise wie den renommierten Schwäbischen Kompositionspreis 1943, seine Werke wurden weiterhin gespielt (seine Faust-Oper gehörte in Deutschland sogar zu den meist gespielten Opern zwischen 1933 und 1942) und seine neuen Kompositionen gelangten an prominenten Spielstätten zur Uraufführung, wie etwa seine Oper „Odysseus“ an der Frankfurter Oper 1942. Sowohl Reutter als auch weitere von den KfdK-Fundamentalisten bekämpfte „Kulturbolschewisten“ wie Iwan Knorr, Wolfgang Fortner, Heinz Thiessen, Boris Blacher oder Hugo Herrmann wurden durch den Apparat der Reichskulturkammer geschützt, sie mussten keine Beeinträchtigungen ihres beruflichen Lebens befürchten. Zur Werbung entwarf Ludwig (Lucky) Tersch die Karikatur eines schwarzen Jazzsaxophonisten, der einen Davidstern trägt. Dieses Motiv trug auch die hetzende Begleitbroschüre zur Ausstellung mit der Aufschrift Entartete Musik – Eine Abrechnung von Staatsrat Dr. H. S. Ziegler.
 

Die Ausstellung "Entartete Musik"

Die Ausstellung „Entartete Musik“, die von leitenden Funktionären des Regimes ignoriert wurde (sie wurde nicht einmal von Rosenberg besucht), blieb für die NS-Musikpolitik ohne spürbare Folgen, war sie doch Ausdruck einer radikalen Gesinnung und eine Aktion „auf eigene Faust, wie sie im NS-Staat nach Motiv und Ausmaß einmalig blieb.“ Wie Eckard John in seinem Buch „Musikbolschewismus: die Politisierung der Musik in Deutschland 1918-1938“ nachweist, war der Begriff „entartete Musik“ „immer auch ein Kampfbegriff innerhalb der eigenen, nationalsozialistischen Reihen. […] Die Brandmarkung der ‚Entartung‘ hatte für Komponisten, die nicht als politische Gegner des NS-Staates oder als Juden galten, keine zwangsläufig existentiellen Konsequenzen.“ Als Beispiel erwähnt er unter anderem Boris Blachers „Geigenmusik in drei Sätzen“, die vom berüchtigten Herbert Gerigk, dem Abteilungsleiter im Amt Rosenberg, als „eine die Zeichen der Entartung tragende Musik“ beschimpft, zugleich aber im offiziellen Programm der im Auftrag von Goebbels organisierten Ersten Reichsmusiktage aufgeführt wurde. „Die Ausstellung 1938 war keine Staatsaktion, bot kein Zensurpanorama der Goebbelsschen ‚Reichsmusikprüfstelle‘“, schlussfolgert John, „vielmehr war sie ein Aufbäumen derer, die in der ‚Kampfzeit‘ um 1933 Oberwasser gehabt hatten, deren realer Einfluss auf die tatsächlichen Gegebenheiten des nationalsozialistischen Musiklebens nun aber immer mehr schwand – auch wenn ihren bornierten Polemiken im ‚Dritten Reich‘ stets unbeschränkt Platz eingeräumt wurde.“ (Eckard John: Musikbolschewismus: die Politisierung der Musik in Deutschland 1918-1938, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart-Weimar, 1994, S. 374-375) Bezeichnend waren die Reaktionen des Präsidenten der Reichsmusikkammer Peter Raabe, der sich weigerte, eine Eröffnungsrede zu der Ausstellung zu halten, sowie des Vizepräsidenten Paul Graener, der dazu einen spöttischen Artikel unter dem Titel „Der entartete Hörer“ publizierte.

In Bezug auf die musikalische Moderne spielten die ästhetischen Kriterien ebenfalls praktisch keine Rolle. Sogar die wenigen im Nazi-Machtbereich verbliebenen Vertreter der experimentellen Moderne der Schönberg-Schule wurden nicht verfolgt und deren Musik war nicht verboten. Anton Webern trat zum Beispiel nach dem Anschluss Österreichs der Reichsmusikkammer bei, 1940 beantragte er eine Zuwendung beim Hilfsfond der RMK, die ihm gewährt wurde. Der Schönberg-Schüler Winfried Zillig (1905–1963) absolvierte während der NS-Zeit nicht nur eine beachtliche Karriere als Dirigent (u.a. Erster Kapellmeister der Posener Oper 1939-1943) und in der Musikadministration (Leiter einer Fachschaft im lokalen Apparat der Reichsmusikkammer), sondern feierte auch weiterhin Erfolge als Komponist, obwohl die meisten seiner Werke, darunter die 1941 in Leipzig uraufgeführte Oper „Die Windsbraut“, mit der Zwölfton-Kompositionstechnik seines Lehrers Arnold Schönberg verfasst wurden. 1943 erhielt er für seine Filmmusik den Sonderpreis der Reichsmusikkammer. In der Nachkriegszeit vollendete Zillig im Auftrag von Schönbergs Witwe dessen Oratorium „Die Jakobsleiter“.

Als einziges zuverlässiges Ausschlusskriterium erwies sich letztlich die unerwünschte persönliche Herkunft. Die Juden im Hitlerreich hatten keine Chance auf eine Beteiligung am Musikleben. Es spielte dann gar keine Rolle, welche Eigenschaften ihr Wirken tatsächlich hatte. Die Musik solcher Komponisten war verboten – unabhängig davon, welche Qualitäten ihre Werke hatten, welchen stilistischen Einflüssen sie ausgesetzt waren und ob ihre Musiksprache avanciert, traditionell oder volkstümlich war. Menschen, die als Personen zum Verschwinden verurteilt waren, hatten auch als Künstler keine Existenzberechtigung. Solange sie überhaupt noch am Leben blieben und imstande waren, schöpferisch tätig zu bleiben, existierte ihre Musik entweder in einer vollständigen Isolation oder in einer Art parallelen Wirklichkeit, völlig abgekoppelt von der eigentlichen Kulturöffentlichkeit – wie etwa das Schaffen der Komponisten in den Jüdischen Kulturbünden oder im Ghetto Theresienstadt.
 

Verfolgte Musiker in Thüringen.

Hier in Thüringen dauerte der Nationalsozialismus bekanntlich nicht zwölf, sondern rund 14 Jahre. Mit einer Unterbrechung stellte die NSDAP hier seit dem 23. Januar 1930 den ersten nationalsozialistischen Minister, den späteren Reichsinnenminister Wilhelm Frick, und Ende August 1932 wurde Gauleiter Fritz Sauckel nach einem glänzenden Wahlerfolg der NSDAP zum Chef der Landesregierung gewählt. Die frühen Siege der NSDAP gingen mit sprachlicher Verrohung einher. So beschimpfte der Abgeordnete Sauckel 1931 seine Konkurrenten der bürgerlichen Parteien als „Verräter“, „Betrüger“, „trottelhafte Greise“, „Leisetreter“ oder „bürgerliche Schlappschwänze“. Nachdem die erste Regierung mit der NSDAP gescheitert war, rief Sauckel im April 1931 zur Jagd auf die Demokraten: „Wir kommen wieder, und über Ihre Parteileichname spaziert das deutsche Volk!“

Als Volksbildungsminister hatte Frick 1930 den folgenden Erlass herausgegeben: „Seit Jahren machen sich fast auf allen kulturellen Gebieten in steigendem Maße fremdrassige Einflüsse geltend, die die sittlichen Kräfte des deutschen Volkstums zu unterwühlen geeignet sind. Einen breiten Raum nehmen dabei die Erzeugnisse ein, die – wie Jazzband- und Schlagzeug-Musik, Negertänze, Negergesänge, Negerstücke – eine Verherrlichung des Negertums darstellen und dem deutschen Kulturempfinden ins Gesicht schlagen.“ Laut Begründung sollte „die Verseuchung deutschen Volkstums durch fremdrassige Unkultur“ „mit aller Schärfe“ gestoppt werden. Unter der Überschrift „Wider die Negerkultur - für deutsches Volkstum“ steht dieser Text im Amtsblatt des Thüringischen Ministeriums für Volksbildung vom 22. April 1930.

(Aus der Rede des Historikers Götz Aly im Thüringer Landtag anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27.1.2019, → online zum Nachlesen)

Fallbeispiele:

Literatur

  • Sophie Fetthauer: Musikverlage im "Dritten Reich" und im Exil, Hamburg, 2004
  • Sophie Fetthauer: Deutsche Grammophon. Geschichte eines Schallplattenunternehmens im "Dritten Reich", Hamburg 2000
  • Eckard John: Musikbolschewismus: die Politisierung der Musik in Deutschland 1918-1938, Stuttgart-Weimar 1994
  • Michael Custodis und Albrecht Riethmüller (Hrsg.): Die Reichsmusikkammer. Kunst im Bann der Nazi-Diktatur, Böhlau Verlag, Köln 2015