Franz Liszt: Stücke aus dem Spätwerk

Wenn es wirklich eine tragende Säule der Romantik gibt, dann war es Franz Liszt, der Musiker, der mit seinem musikalischen Genie Europa eroberte. Mit seinem leidenschaftlichen Spiel und seinem einzigartigen Stil, der ihn zu einem leuchtenden Star machte, wurde er zu einem Musiker, der seine Präsenz auf der Bühne beweisen konnte. Begleitet wurde sein Talent auch durch die Entdeckung und lebenslange Inspiration von Niccolò Paganini.

„Nur einige Stunden zu Pferd von Wien liegt das Dorf Raiding (auf Ungarisch Doborján). Dort wurde Franz Liszt am 22. Oktober 1811 geboren und hier verbrachte er die ersten neun Jahre seines Lebens mit seinem Vater Adam und seiner Mutter Maria Anna. Als Franz sechs Jahre alt war, erhielt er seinen ersten Klavierunterricht von seinem Vater. Am 1 Dezember 1822 gab er sein erstes öffentliches Konzert. Das Konzert war in Wien und sehr erfolgreich.“1 Im Februar 1847 begann für Liszt eine neue Wendung in seinem Leben, als er Carolyne zu Sayn-Wittgenstein traf, während er in Kiew spielte, wo sie ihn überzeugte, sich auf das Komponieren zu konzentrieren.2 In den folgenden Jahren lebte Liszt in Weimar, wo er als Komponist und Dirigent tätig war. Er gab vielen Musikern Klavierunterricht und schrieb Artikel, in denen er sich unter anderem für Richard Wagner einsetzte. Ab 1871 unternahm Liszt ständige Reisen zwischen Rom, Weimar und Budapest und verwirklichte die von ihm so genannte ‚Dreieckspräsenz‘. Er starb am 31. Juli 1886 in Bayreuth und wurde am 3. August 1886 auf dem städtischen Friedhof von Bayreuth beigesetzt.

In vielen Alterswerken kümmerte er sich überhaupt nicht mehr um harmonische Gesetze. Von 1870 bis zu seinem Tod 1886 komponierte er überwiegend kürzere Stücke. Die meisten waren für Klavier solo und sind bereits, wie Bruno Hinze-Reinhold sagt, durch ihren unharmonischen Charakter und ihre Atonalität Wegbereiter der Moderne. Hinze-Reinhold spielte diese Spätwerke an seinem Abschiedsabend 1961, bei welchem er sein Amt an seinen jüngeren Kollegen und Schüler Martin Högner übergab, und noch einmal, zu einer anderen Gelegenheit, spielte er manche Spätwerke, so auch „Abschied“, „Unstern! (Unstern! Sinistre-Disastro)“, „Im Traum (En Rêve, Nocturne)“, „Bagatelle ohne Tonart (Bagatelle sans tonalité)“, „Die Trauergondel I (La lugubre gondola I)“ und „Elegie Nr. 1“, die für ihn zwar virtuos waren, aber vor allem tiefgründig.3

Seine pianistische Ausbildung erhielt Hinze-Reinhold unter anderem bei dem Liszt-Schüler Alfred Reisenauer, wodurch er zu den Enkel-Schülern des Komponisten zählt. Bereits ab 1913 leitete Hinze-Reinhold eine Ausbildungsklasse für Klavier an der damals noch „Großherzoglichen Musikschule“ in Weimar und wurde 1916 zunächst zum kommissarischen Leiter der Einrichtung ernannt. Im gleichen Jahr verlieh man ihm den Professorentitel und er wurde Direktor. Da er sich weigerte, in die NSDAP einzutreten, nötigte ihn die thüringische Landesregierung 1933 zum Amtsverzicht, woraufhin er einer freischaffenden Tätigkeit in Berlin nachging und erst 1947 als Klavierprofessor an unsere Hochschule in Weimar zurückkehrte. Hinze-Reinhold starb am 26. Dezember 1964 in Weimar.4

Es ist anzumerken, dass Liszt nicht wollte, dass seine Schüler seine späteren Klavierwerke öffentlich aufführten (zumindest nicht zu seinen Lebzeiten), da er der Meinung war, dass dies nicht gut für ihre Karriere sein würde. Es ist offensichtlich, dass Liszt wusste, dass diese Werke von seinen Zeitgenossen nicht verstanden werden würden. Auf Kritiker seiner Werke antwortete er mit dem Satz: „Ich bleibe hartnäckig in meiner Ecke und arbeite nur daran, immer unverstandener zu werden.”5

In dem Stück „Bagatelle sans tonalité“ stellt sich Liszt außerhalb aller musikalischen Gesetze, und so wirkt dieses Werk, als wäre es erst in späterer Zeit entstanden. Dabei ist es zwar wenig dissonant, aber sehr chromatisch.6  Interessant ist, dass sowohl der Anfang als auch das Ende des Stückes eindeutig atonal sind, während in den mittleren Abschnitten eine gewisse Tonalität angedeutet werden kann. Die Atonalität des Werkes liegt hier also nicht in den krassen Dissonanzen, sondern im Spiel mit dem Tonalitätsempfinden des Hörers, in der Annäherung an die Tonika und der anschließenden Abweichung. Die verminderte Skala spielt zudem eine wichtige Rolle. Sie ist deutlich in der Einleitung zu erkennen, wo Liszt die Ganzton-Halbtonleiter von H bis B verwendet, wenn auch nicht in ihrer vollständigen Form. Wenn die Einleitung in Takt 87 zum zweiten Mal erklingt, erscheint die Skala in ihrer vollen Länge. Auch die „quasi cadenza“ in Takt 86 besteht nur aus Noten der verminderten Tonleiter.7

Ursprünglich wollte Liszt diesem verwegenen Stück den Namen eines weiteren ‚Mephisto Walzers‘ geben, der zum Programm die bekannte ‚Wirtshausszene’ aus dem Leben Fausts hat. Der neue Titel aber kündet schon davon, dass der Komponist sich außerhalb bereits bekannter Referenzen stellt. Das sich einstellende melodiöse Gefühl erweckt Ähnlichkeiten zur ‚Minera‘, einem Flamenco-Stil, der in der Tradition der nomadenhaften Zigeunermusik steht. Die „Bagatelle sans tonalité“ ist ein Stück für Klavier solo aus dem Jahr 1885.8 Das Werk wurde bald nach seiner Fertigstellung von Liszts Schüler Hugo Mansfeldt öffentlich aufgeführt. Liszt war nicht anwesend, hatte aber von der Aufführung seines Stücks gehört und bat Mansfeldt später, es ihm vorzuspielen. Ausgehend von Mansfeldts Erinnerungen kann man vermuten, dass Liszt über diesen Vorfall eher erfreut war. Es blieb für Jahrzehnte die einzige öffentliche Aufführung des Werks. „Bagatelle sans tonalité“ wurde erst 1956 veröffentlicht.9 

Das Klavierstück „Unstern! Sinistre-Disastro“ entstand vermutlich 1886, dem Todesjahr Liszts, und ist möglicherweise seine letzte vollendete Komposition. Wie der Name schon erahnen lässt, wird eine bedrohliche, finstere und katastrophale Stimmung beschrieben.10 Hörbar wird diese durch eine ungewöhnliche Tonsprache, nämlich einen Gegensatz zwischen konsonanten Harmonien und besonders heftigen Dissonanzen und die dadurch erzeugte konstante Spannung.11 Überdies ist das musikalische Material weitestgehend stark minimiert; Kurzmotive, Intervallkonstellationen oder akkordische Konfigurationen dienen zum Gegenstand musikalischer Reflexion. Das Autograph, welches sich im Besitz von August Göllerich befand, ist verschollen, lag aber 1927 für die Druckausgabe des Bands II,9 der Breitkopf-Gesamtausgabe noch vor.12 

Ahmad Balhawan, Priit Peterson, Henrike Spittel


1 Everest Helm, Franz Liszt, Hamburg 2001, S. 9.
2 Vgl. ebd., S. 66, 67, 69, 70, 72.
3 Vgl. Bruno Hinze-Reinhold, „Lebenserinnerungen“, in: Michael Berg (Hrsg.), „Edition Musik und Wort der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar. Bd. 1“, Weimar 1997, S. 192, 205, 211.
4 Vgl. ebd., S. 18, 60–62, 89, 93, 169, 211.
5 Franz Liszt, „Franz Liszt’s Briefe. Briefe an eine Freundin“, Leipzig, 1894, S. 170.
6 Vgl. Bruno Hinze-Reinhold, „Lebenserinnerungen“ (wie Anm. 3), S 195.
7 Vgl. David Barry: „The Meaning[s] of "Without". An Exploration of Liszt's Bagatelle ohne Tonart“, in: “19th-Century Music”, Bd. 27, Nr. 3, 2004, S. 230–262.
8 Vgl. Bruno Hinze-Reinhold, „Lebenserinnerungen“ (wie Anm. 3), S 195.
9 Vgl. Alan Walker, „Franz Liszt. The Final Years”. 1861–1886.
10 Vgl. Frank Giesker, „Pierre-Laurent Aimard. Klavierrecital I“, <https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/programm/bfs-gesamtprogramm/programmdetail_20268.html> 28.09.20.
11 Vgl. Bruno Hinze-Reinhold, „Lebenserinnerungen“ (wie Anm. 3), S 195.
12 Vgl. Frank Giesker, „Pierre-Laurent Aimard. Klavierrecital I“ (wie Anm. 10).