Die Verleihung des Namens "Franz Liszt" an die Hochschule im Jahre 1956

Von der Namensgebung der Hochschule im Jahre 1956 existieren zum Festakt am 22. Oktober – dem Geburtstag Franz Liszts – Tondokumente mit den Ansprachen hochrangiger politischer Funktionäre der DDR, ferner des damaligen Oberbürgermeisters von Weimar sowie von zwei Repräsentanten der Musikhochschulen in Prag und Budapest. Diese Ansprachen sind hochinteressant, weil sie ein differenziertes Bild vom politischen und kulturellen Selbstverständnis geben, welches anläßlich dieser Namensgebung aufgeboten wurde.

Der Festakt begann mit einer Begrüßungsansprache durch Werner Felix (1927–1998). Er war von 1955 bis 1965 Rektor der Weimarer Musikhochschule. 1962 wurde er zum Präsidenten der Chopin-Gesellschaft der DDR ernannt und bekleidete dieses Amt bis 1986. Von 1987 bis 1990 war er als Rektor an der Leipziger Musikhochschule tätig.

Die zweite der aufgezeichneten Ansprachen hielt der Cembalist, Musikwissenschaftler und Kulturfunktionär Hans Pischner (1914–2016), der 1956 Leiter der Hauptabteilung Musik im neu gegründeten Ministerium für Kultur der DDR war und dann stellvertretender Minister für Kultur wurde.

Eine weitere Ansprache stammte von Karl Hossinger (1905–1985). Zur Zeit der Namensgebung war er stellvertretender Vorsitzender des Rates des Bezirkes Erfurt; 1959 wurde er zum stellvertretenden Direktor der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen deutschen Literatur in Weimar ernannt. In seiner Ansprache zeichnete er ein klassenkämpferisch verfälschtes Bild von der Geschichte der Vorläuferinstitution der Hochschule, nämlich der 1872 durch Großherzog Carl Alexander (1818–1901) gegründeten Großherzoglichen Orchesterschule, die Hossinger zufolge nur "Angehörigen privilegierter Schichten zugänglich" gewesen sei.

In Wahrheit jedoch ging es schon in den Plänen zur Gründung der Großherzoglichen Orchesterschule wie auch während ihres Bestehens darum, „talentirten Schülern“ eine Ausbildung zu ermöglichen (Huschke, "Zukunft Musik", S. 38), später auch Schülerinnen (Huschke, "Zukunft Musik", S. 100). Die Namen der aufgenommenen Schüler zeigen in der Regel eine Herkunft aus dem Bürgertum oder aus dem ländlichen Raum, etwa im Herbst 1872 "Carl Hild aus Mannheim (Violine), Rudolf Wendel aus Erfurt (Oboe, Cello), Friedrich Elschner aus Erfurt (Flöte, Violine), Paul Steger aus Rheinberg (Trompete, Cello), Edmund Kötscher [...] aus Weimar (Violine, Klarinette), Georg Stahl aus Prenzlau (Fagott, Violine), Alwin Reindel aus Allstedt (Cello, Klarinette), Otto Walther aus Ballstedt (Flöte, Violine) und Gottl. Grunewald aus Quenstedt (Violine, Klarinette) [...]" (Huschke, "Zukunft Musik", S. 39 f.). Auch internationale Herkunft ist belegt, so „zwischen 1872 und 1877 [...] drei aus Österreich-Ungarn, vier aus der Schweiz, drei aus Russland, einer aus England, fünf aus Amerika“ (Huschke, "Zukunft Musik", S. 41). Voraussetzung war Schulbildung bis zum 14. Lebensjahr (Huschke, "Zukunft Musik", S. 38). Ferner wurde Armut als möglicher Hinderungsgrund schon früh erkannt und zum Anlass für Gegenmaßnahmen genommen, von denen nicht wenige aus der großherzoglichen Schatulle bezahlt wurden (Huschke, "Zukunft Musik", S. 30 f.).

Diese und zahllose weitere Fakten belegen, dass Hossinger in seiner Ansprache krasse Geschichtsverfälschung betrieb. Die tatsächliche Realität war anders, und dies nicht nur in der Großherzoglichen Orchesterschule, sondern im Laufe der Zeit in weiteren Institutionen Weimars; so stand die bereits 1860 ebenfalls durch Großherzog Carl Alexander gegründete Großherzoglich-Sächsische Kunstschule ab 1902 auch Frauen offen, wie man der 2019 im neu eröffneten Neuen Museum in Weimar befindlichen Ausstellung entnehmen konnte. Hossinger hingegen war auch in anderer Hinsicht einschlägig als politischer Scharfmacher bekannt; so hatte er, der nach 1945 zunächst Mitglied der KPD, dann der SED war, sich dafür eingesetzt, dass das Eigentum von Menschen, welche die DDR als ‚Republikflüchtlinge’ verlassen hatten, nicht ihren Familien überlassen, sondern eingezogen werden sollte. Wie dies im jeweiligen Fall gehandhabt wurde, kann hier nicht näher erörtert werden.

Deutlich anders als Hossingers Ansprache war die Ansprache von Weimars Oberbürgermeister Hans Wiedemann (1888–1959), nämlich nicht politisch, sondern kulturgeschichtlich ausgerichtet. Wiedemanns Sprachgestus und Inhalt scheinen kaum tangiert gewesen zu sein von der Rhetorik der totalitären Ideologien der jüngeren deutschen Vergangenheit, sondern eher geprägt durch seine Erziehung als Sohn eines Beamten im Kaiserreich. 1946 wurde er Mitglied der CDU und blieb dies auch als Mitglied der Volkskammer, des Verfassungsausschusses und der Länderkammer. In seiner Ansprache bettet er die Existenz der Hochschule wie auch ihren Namensgeber in die Kulturgeschichte Weimars ein, welches er mit dem Athen der Antike sowie mit dem Florenz der Renaissance in eine Reihe stellt. Die Ausbildungsziele der Hochschule sieht er als Folgerichtigkeit des musikpädagogischen Wirkens Liszts.

Wieder anders ausgerichtet – nämlich auf die Beziehungen zwischen ungarischer, tschechoslowakischer und deutscher Kultur – waren die Ansprachen von István Antal (1909–1978) und Václav Holzknecht (1904–1988), den Leitern der ungarischen und tschechoslowakischen Delegation zur Namensgebung. Beide hielten ihre Ansprachen in fließendem Deutsch. Antal (Musikakademie Franz Liszt Budapest) betonte die „verwandtschaftlichen Beziehungen“ beider Hochschulen durch den gleichen Namensgeber. Ob er bereits Vorahnungen hatte hinsichtlich des Unmuts, der sich in der ungarischen Bevölkerung seit längerem gegen das sozialistische Regime anstaute und einen Tag später – am 23. Oktober – im Ungarn-Aufstand entlud, ist zumindest seiner Ansprache nicht anzumerken. Im weiteren Verlauf der Feierlichkeiten zur Namensgebung spielte er zudem das Klavierkonzert in A-Dur von Franz Liszt, wovon ebenfalls ein Tondokument existiert, leider in schlechter Qualität.

Holzknecht (Prager Konservatorium) wiederum verwies auf die mit Liszts Unterstützung durch Bedřich Semetana 1848 betriebene Gründung einer Musikschule in Prag. Damit suchte er kulturell erneuerte Gemeinsamkeiten im Rekurs auf eine Zeit vor der leidvollen deutsch-tschechischen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die zwischen 1920 und 1946 von sich wechselseitig hochschaukelnden Übergriffen einschließlich der deutschen Verbrechen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geprägt war. Manche der danach vertriebenen Deutschen suchten ihrerseits nach Möglichkeiten einer kulturell erneuerten Gemeinsamkeit, so etwa der am Musikgymnasium in Belvedere lehrende Cello-Lehrer Joseph Nedorost (geb. 1924), der seine Jugend in Kratzau (Chrastava, Nordböhmen) verbracht und an der Deutschen Musikakademie in Prag studiert hatte.

Das einigende Band aller Ansprachen war Franz Liszt. Im Anschluss an die Ansprachen war noch Liszts Arbeiterchor (Searle 82; Raabe 552) zu hören, ein Gelegenheitswerk aus dem Jahre 1848, welches vermutlich das einzige Werk ist, das sich für Repräsentationszwecke des von Hossinger beschworenen "Arbeiter- und Bauernstaates" zu eignen schien.

Ferner existieren Tondokumente zu den Konzerten, die sich anläßlich der Namensgebung über fast eine Woche erstreckten und viele Facetten des Werks von Liszt darboten, darunter auch mit der "Missa choralis" ein großes sakrales Werk, was im damaligen politischen Umfeld der überwiegend religionsfeindlichen DDR überrascht.

Prof. Dr. Albrecht von Massow