Sergej Rachmaninov: Prélude op. 32 Nr. 12

Das zwölfte „Prélude“ aus Opus 32 ist das vorletzte, eines 13 „Préludes“ umfassenden Werkes. Sergej Rachmaninov komponierte es 1910 auf dem 500 Kilometer von Moskau entfernten Familiengut „Iwanowka“, das er im selben Jahr zusammen mit seinem Schwager von seinen Schwiegereltern übernommen hatte. Es entstand in einer für uns schwer vorstellbaren Zeit, die wir rückblickend als Fin de Siècle und Endphase des russischen Zarenreichs ansehen müssen. Das Familiengut, mit dem die meisten europäischen Landgüter nicht vergleichbar scheinen, umfasste 24 Gebäude und sehr großen Landbesitz. Dort widmete sich Rachmaninov seiner Zeit der Verwaltung und, ganz im Sinne des Vaters, der Pferdezucht. Schon in den Jahren zuvor diente „Iwanowka“ Rachmaninov und seiner Familie als Sommersitz. Während er in den Wintermonaten vor allem konzertierte und dadurch Geld verdiente, nutzte er die Sommermonate unter anderem verstärkt zum Komponieren. So entstanden auch die „Préludes“ Opus 32 in einem dieser Sommer. Der Hof, das Leben und die Arbeit auf dem Lande dienten dem Komponisten dafür als Inspirationsquelle. In einem Brief an seinen Freund Nikita Morosow schrieb er im Juni 1910:

„Ich hab den ganzen Monat vertrödelt. War oft fischen und pflanzte Weiden, eine faszinierende Arbeit. […] 120 hab ich gepflanzt, bewässert und bewässere sie weiterhin. […] Wie groß ist mein Vergnügen, wenn ich Knospen ihres frischen Grüns sehe.“1

Fast zeitgleich mit den „Préludes“ Op. 32 entstand auch die ganz im alten russischen Stil behaftete „Liturgie des Heiligen Crysostomus“. Nicht nur ihretwegen wurde Rachmaninov oft in Zusammenhang mit einer ‚Klangwelt von gestern‘ gebracht und als ‚letzter Komponist des 19. Jahrhunderts‘ bezeichnet. Als Pianist von Weltrang gefeiert, war Rachmaninov gleichwohl nicht vor ambivalenten Kritiken gefeit und musste sich mit dem Ruf als Komponist der Salonmusik auseinandersetzen. Diese Diskrepanz zwischen dem Wirken als Pianist, Komponist, aber auch Dirigent und der damit einhergehenden Identitätsfrage spielte in Rachmaniovs Leben überhaupt eine wichtige Rolle. Daraus könnte sich auch erklären lassen, warum Rachmaninov zur Entstehung des Opus 32 so deutliche Worte findet:

„Aber schlechter als alles andere geht die Sache mit den kleinen Klavierstücken. Ich mag diese Beschäftigung überhaupt nicht, und sie fällt mir schwer. Keine Schönheit, keine Freude.“2

Einige Jahre später wird Rachmaninov in einem Interview die „deutliche und präzise Aussage eines kurzen Klavierstücks“ als „schwierigstes Problem eines schöpfenden Künstlers“ deklarieren.3 Obwohl, oder gerade weil die Préludes so viel Aufwand erforderten, zählen sie zu den am perfektesten geformten aus Rachmaninovs Schaffen.

Das Opus 32 ist der letzte Teil eines mit dem berühmten Cis-Moll-Prélude und dem Opus 23 in sich geschlossenen Zyklus. An den weit auseinanderliegenden Entstehungszeiten – das Cis-Moll-Prélude wurde bereits 1892 uraufgeführt, das Opus 23 zwischen 1901 und 1903 – wird jedoch eine grundsätzliche Selbstständigkeit der einzelnen Teile und der „Préludes“ überhaupt ersichtlich. Dafür spricht auch, dass die „Préludes“ nicht am Stück uraufgeführt wurden. Auch wenn Rachmaninov selbst die Verwendung von „Préludes“ „vor einem wichtigeren Musikstück […] oder als Einführung zu irgendeiner Veranstaltung“4 als angemessen sah, können sie eine singuläre Stellung als Miniaturen beanspruchen. Der zyklische Zusammenhang besteht vielmehr in der harmonischen Konzeption, die – an die Tradition Bachs und Chopins anknüpfend — alle 24 Tonarten durchwandert.

Das Opus 32 ergänzt somit die übrig gebliebenen Tonarten. Statt eines weiterreichenden Zusammenhangs findet sich in Rachmaninovs Zyklus eine kompositorische Fortentwicklung, die im Opus 32 kulminiert. Der Pianist Alexander Weissberg beschrieb das „Prélude“-Schaffen des Komponisten wie folgt: „Rachmaninovs Musik wurde komplexer, kontrapunktischer; sie wurde harmonisch interessanter und aufregender.“5

Auch das im Fokus der Betrachtung stehende zwölfte „Prélude“ macht da keine Ausnahme, wiewohl man Anklänge an das erste „Prélude“ heraushören könnte. Auch wenn eine melancholische Stimmung, wie so oft bei Werken Rachmaninovs, vorherrschend ist, wird selbige durch eine reiche Stimmungspalette ergänzt, die von Tragik, Resignation und stiller Trauer bis Lyrik und Idylle reicht. Auffällig ist, dass die Melodie überwiegend in der linken Hand gespielt wird. Sie ist von einem kantablen, sehr lieblichen, aber auch wehmütigen Leitmotiv mit Abwärtstendenz geprägt. Die zahlreichen piano- und diminuendo-Vorschriften beeinträchtigen jedoch eine Weiterentwicklung; eher wirken sie wie eine Zurücknahme. Dem gegenüber steht eine ostinate und zugleich offen schwebende, auf Quinte und Oktave arpeggierende Begleitung, die durch ihre Tonhöhe und einen für Rachmaninov typischen Pulsschlag sehr prägnant ist. Sie erinnert an Glockengebimmel, jedoch eher ungestüm und ziellos, als kraftvoll, in jedem Fall aber kontrastierend zur Melodie. Die vorliegende Aufnahme entstand im Rahmen der Feierlichkeiten zum einhundertjährigen Jubiläum der Hochschule am 20. Juni 1972. Die damalige Professorin für Klavier Gunda Köhler- Scharlach interpretierte am Klavier.

Lorenz Kestler


1 Maria Biesold, Sergej Rachmaninoff 1873 - 1943. Zwischen Moskau und New York. Eine Künstlerbiographie, [Weinheim, Berlin] 1993, S. 226.
2 Ebd.
3 Vgl. ebd., S. 229.
4 Julia Smilga, „Sergej Rachmaninow. Préludes op. 32“, <https://www.br-klassik.de/themen/klassik-entdecken/starke-stuecke-rachmaninow-preludes-100.html>, 11.03.21.
5 Marcus Heinicke, „The Rachmaninov Prélude: Claire Huangci und 18 Jahre Musikgeschichte“, <https://berlin-classics-music.com/de/the-rachmaninov-preludes-claire-huangci-und-18-jahre-musikgeschichte>, 11.03.21.