Erinnerung an Wolfgang Marggraf

Der Ehrensenator und Ehrendoktor der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Gülke, verfasste anlässlich des Todes von Alt-Rektor Prof. Dr. Wolfgang Marggraf am 21. März 2023 eine persönliche Erinnerung:

"Wir kannten uns seit dem September 1954 – er zur Musikwissenschaft nach Jena gekommen nach zwei Jahren auf der Leipziger, ich nach zwei Jahren auf der Weimarer Musikhochschule, beide angezogen von Heinrich Besseler, dem wohl bedeutendsten, zumindest originellsten Musikwissenschaftler seiner Generation. Dass es ihn wegen nazistischer Verstrickungen nach Jena verschlagen hatte, wußten wir damals nicht – und hätten es, wenn wir's gewußt hätten, nicht wichtig gefunden: Zu deutlich profitierten wir davon, daß die DDR-Oberen den 'großen bürgerlichen Wissenschaftler' hofierten wie einen General in Gefangenschaft, wir uns bei ihm wie unter einer Käseglocke befanden.

Aus Weimar kam damals eine kleine Gruppe nach Jena, Wolfgang als einziger stieß aus Leipzig dazu; angesichts der starren DDR-Regeln war es für ihn nicht leicht gewesen, Jena anstatt Leipzig zur Fortsetzung des Studiums durchzusetzen. Bei uns, die damals kräftig mit alten Instrumenten hantierten, bald auch Konzerte gaben, war er schnell aufgenommen, willkommen u. a., weil er besser als wir Klavier spielte und wir, drastisch unterschiedliche Temperamente, ein humorvoll ausgleichendes Temperament gut brauchen konnten. Auch brachte er ins stillere Jena Anregungen aus dem aufsässigeren Leipzig mit, so die letzten in der DDR gedruckten Bücher von Ernst Bloch. Selbstverständlich ließ auch der Widerstand gegen ideologische Nötigungen uns eng zusammenrücken, u.a. in intensiven Auseinandersetzung mit seinerzeit unerwünschter Musik, Literatur, Philosophie. Heute mutet es eher skurril an, daß Schönberg, Strawinsky etc., als 'spätbürgerlich-formalistisch' gebrandmarkt, nahezu verboten waren, für uns umso interessanter.

Das spielte eine noch größere Rolle, nachdem der Lehrstuhl in Jena geschlossen worden war und wir im Jahr 1956 mit Besseler nach Leipzig umzogen. Dort wurde unser letztes Studienjahr zum bei Weitem dramatischsten: Die Aufstände in Polen und Ungarn beschäftigten uns Tag für Tag – auch dank der Solidarisierung mit von dort gekommenen, nun an der Rückkehr gehinderten Gastprofessoren und Kommilitonen. Zudem gab es in der ohnehin mit viel prominenten, interessanten Professoren besetzten Universität – Ernst Bloch, Hans Mayer, Werner Krauss, Ernst Ladendorf, unter 'großen Alten' Korff, Frings, Viktor Klemperer – aktuell viel Aufregung, scharfe, zuweilen gefährliche Diskussion anläßlich der Hetzjagd auf den populärsten Professor: Bloch. Jeden zweiten Abend saßen wir hitzig diskutierend zusammen, oft, weil's dort billig war, in der 'Ponydiele'; viele spitze Ohren mögen zugehört haben.

Im Sommer1957 war das Staatsexamen fällig, kaum mehr als ein Jahr später promovierten wir bei Besseler zu dritt mit Arbeiten über Musik des 14. bis 16. Jahrhunderts, darunter Wolfgang und ich. Der kurze Abstand zwischen Examen und Promotion erklärt sich daraus, dass es für frisch examinierte Musikwissenschaftler kaum fachgerechte Beschäftigungsmöglichkeiten gab; einer verdingte sich als Geigenlehrer in einer Musikschule, der andere schlug sich freiberuflich als Artikelschreiber, Rezensent etc. durch, ähnlich auch ich, zusätzlich mit Unterricht auf alten Instrumenten. Wolfgang als einziger fand eine Festanstellung – als Musikdramaturg am Theater Rudolstadt, wo seine damalige Braut als Sängerin engagiert war.

Damals wohnten beide unter abenteuerlichen Umständen (so empfand man es damals nicht) mit zwei anderen Parteien hinter einer Wohnungstür in zwei Zimmern ohne irgendwelche Aisancen - Wasserhahn, Ausguss, Toilette für alle, insgesamt 9 Personen, dieselben. Zwei Jahre später wurde ich dort und im Theater Wolfgangs Nachfolger; er wechselte nach Erfurt, fand dort DDR-üblich zunächst keine Wohnung und ließ mich in seinem Mobiliar hausen. Für mich war's ein Glücksgriff, weil ein kleines Theater am ehesten erlaubte, irgendwann von der Dramaturgie zur Kapellmeisterei zu wechseln - was dann auf dem Umweg über Zusatztätigkeiten als Cellist und Komponist von Schauspielmusik tatsächlich gelang.

Die Tätigkeitsfelder von Dramaturgen haben sich seither mächtig verschoben. Nicht nur sollten sie vor Beginn der Regiearbeit möglichst linientreue Konzeptionen verfertigen, sondern die Regisseure bei deren Umsetzung überwachen. Fast immer lief's auf andere Ergebnisse als die offiziell gewünschten hinaus, wobei auch der hohe, mit Namen wie Brecht, Felsenstein etc. verbundene Anspruch der Regie hilfreich war: Wir lasen die Stücke vornehmlich im Hinblick darauf, sie gegen dogmatische Vereinnahmung verteidigen zu können, was sich in der Regiearbeit fortsetzte. Dramaturgen haben damals oft beim Inszenieren dabeigesessen, wo nicht assistiert, insgesamt lief's auf einen heute unüblichen, gewissenhaften Umgang mit den Vorlagen hinaus.

Genug Diskussionsstoff u.a. zwischen Wolfgang und mir! - darüber hinaus mit gemeinsamen Freunden, u.a. mit dem aus dem alten Wien gekommenen, dessen Kultur verkörpernden Joseph Trauneck, der einst Schüler bei Arnold Schönberg gewesen war und einst den jungen Hanns Eisler dorthin gelotst hatte. All dies setzte sich in gemeinsamen Urlauben der frisch verheirateten Ehepaare fort, auch das DDR-typisch: Weil man ins Ausland, ohnehin nur das östliche, ausschließlich in Gruppenreisen kam, wichen Gleichgesinnte in eine Spezialform innerer Emigration aus: Paddeltouren auf brandenburgischen und mecklenburgischen Seen; auf Übernachtungsplätzen traf man überraschend auf interessante, ähnlich gesonnene Zeltnachbarn - so auch Marggrafs und Gülkes.

Dass wir, nachdem Wolfgang als Musikwissenschaftler an die Franz-Liszt-Hochschule gewechselt war, weniger Kontakt hatten, können wir guten Gewissens beruflichen Belastungen und weit auseinander liegenden Orten zuschreiben – ich u.a. in Stendal, Potsdam, Stralsund, Dresden engagiert. Und die gemeinsame Zeit in Weimar (1981 bis 1983), bevor ich 'gezwungen wurde, die DDR freiwillig zu verlassen', war zu kurz und stand für mich zu sehr im Zeichen zunehmender Pressionen, als daß wir oft hätten zusammenkommen können. Weil unter Beobachtung stehend, wußte ich nicht, wie sehr enge Kontakte Wolfgang belasten würden.

Ohne dass ich ihn hier erlebt habe, war mir nie zweifelhaft, dass Wolfgang in einer Hochschule an der richtigen Stelle war: Dass er nie weit weg von der Praxis gewesen ist – wie oft und gern hat er mit Sängerinnen und Sängern gearbeitet, am Klavier begleitet! - , prägte auch, bis ins Sprachliche hinein, seinen Umgang mit der Theorie, Musikgeschichte, musikalischen Analysen etc.. Als elementar kommunikative Begabung vergaß er auch, wenn er über knifflige Probleme schrieb oder sprach, nie das Moment der Mit-Teilung, extreme Zuspitzungen, sei's in Fragestellungen, sei's in Formulierungen, waren seine Sache nicht – ein fast rätselhaftes Beieinander von intellektuellem Anspruch und freundlich intonierter Mittellage.

Schon hinter der direkten, von ihm ohnehin bevorzugten rednerischen Vermittlung: Was für eine beneidenswerte Fähigkeit, bei musikgeschichtlicher Daten, analytischen Betrachtungen 'Familiarität' mit den Zuhörern herstellen zu können, auch wenig Interessierte schon dank unangestrengter Selbstverständlichkeit davon überzeugen zu können, daß selbst Du Fay, Josquin, Palestrina oder Strukturen von Fugen, Sonatensätzen wichtig seien und diesbezügliche Kenntnisse auch der Praxis hülfen! Das hat sich auch in den Musikerbiographien (Haydn, Verdi, Puccini) und den Kommentaren seiner Ausgabe der Musikalischen Schriften von E.T.A. Hoffmann niedergeschlagen. Die derzeitige Präsidentin der Hochschule bekennt, sich als Studentin auf seine Vorlesungen stets gefreut zu haben.

Vermutlich hat jenes Beieinander von Anspruch und bis zum Eindruck von Harmlosigkeit gehender Toleranz - eine Spezialform von Unschuld? - auch geholfen, dass Wolfgang, gewiß nicht unangefochten, gewiss kein Kämpfer, kein Mann der ersten Reihe, die DDR-Jahre mit reiner Weste überstand. Wie sehr war daran die Begabung beteiligt, ernste Dinge nicht immer ernst zu nehmen, gegebenenfalls sich retten zu können, indem man eigenste Dinge – ein Vorhaben, ein Buch, ein Bild, Musik wichtiger findet als aktuelle Bedrängungen? Obwohl ich ihn mir weder als Verwaltungsfreak, als Machtmenschen noch auf Prominenz versessen vorstellen konnte, hat's mich nicht überrascht, als ich hörte, daß er nach der Wende als erster frei zum Rektor gewählt worden war. 

Bezeichnend auch, dass ich ihn als solchen einmal blass werden sah - als er mich durch die Hochschule führte und wir in einem Zimmer den Blüthner-Stutzflügel stehen sahen, den ich von unserem Doktorvater geerbt, den die Stasi nach meiner Flucht aus der Wohnung geräumt, meiner Frau nie über den Verbleib Auskunft gegeben hatte. Nun meinte Wolfgang, mir das 'Raubgut' zurückerstatten zu müssen, obwohl die Hochschule ohnehin zu wenige Instrumente besitzt. Dass der Flügel dort, wo er jetzt steht, besser am Platz, dies letztlich im Sinne Heinrich Besselers sei, wollte er mir nicht abnehmen, erklärte sich erst einverstanden, nachdem ich ihm klargemacht hatte, dass es in der derzeitigen Wohnung keinen Platz gäbe.

Nach seinem Umzug nach Süddeutschland hat die Entfernung direkte Kontakte erschwert. Einmal habe ich ihn besucht und war froh, ihn und seine Frau in Lörrach, in der Nähe ihres Sohnes gut aufgehoben zu finden. Mit Nachrichten von den gesundheitlichen Katastrophen seit Mai vorigen Jahres wollten die beiden mich wohl verschonen. 

In Bezug auf die letzte Zeit fällt's schwer, nicht von Fügung zu sprechen: Mehrmals seit etwa vier Wochen haben wir ausführlich telefoniert, er bat um Texte, empfahl auch – fast ein Vermächtnis –, mehr an die Leser zu denken. Am Samstag d. 18. März rief er von sich aus an, bat darum, ich solle den Geburtstag seiner Frau am nächsten Tag nicht vergessen, betonte nochmals – zufällig? -, wie schlimm es sei, daß er ihr die Liebesdienste des letzten Dreivierteljahres nicht vergelten könne, wollte weitere Texte zugesandt bekommen. Am Sonntag gab es für beide wenig zu feiern, am Dienstag gegen Mittag ist er in ihren Armen eingeschlafen.

'Der Dienstmann meines Büros hat uns verlassen. Ich bin heute amputiert worden. Ich bin nicht mehr derselbe… Alles, was in unserem Gesichtsfeld aufhört, hört in uns selbst auf', lesen wir in Pessoas 'Buch der Unruhe'. Das wird mir neu und drastisch deutlich, da mit Wolfgang der Vorletzte aus unserer einst innig verbundenen, bis zur Zäkeligkeit diskutierwütigen Runde gegangen ist."