Pariser Prägung

Silvius von Kessel wirkt als Honorarprofessor

Silvius von Kessel ist Domorganist und Kantor am Erfurter Dom St. Marien, Honorarprofessor für Orgel an der HfM Weimar und künstlerischer Leiter der Thüringer Bachwochen. Wenige Wochen vor der Uraufführung seiner ersten eigenen Messkomposition, der Missa cum Jubilo, am 20. September 2019, traf Thomas Grysko traf ihn Erfurt.

Auf Silvius von Kessels Schreibtisch stapeln sich gedruckte Partituren, Notenblätter, Ordner und Formulare. Das große Bücherregal ist randvoll mit kirchen- und musikgeschichtlicher Literatur, und durch das kleine Fenster erhasche ich einen Blick auf den Erfurter Dom, der in der sommerlichen Sonne seine kühlenden Mittagsschatten wirft.

„Unsere Dorfschullehrerin spielte im Gottesdienst immer die Orgel, und wenn gewisse Präludien erklangen, habe ich immer zu ihr hochgeguckt", erzählt mir Silvius von Kessel mit einem Schmunzeln. Ursprünglich stammt der Erfurter Domorganist und Kantor aus der Region um Oldenburg. „Meine Faszination für die Orgel nahm ihren Anfang, als ich elf Jahre alt war.“

Im Alter von 21 Jahren begann von Kessel ein Studium der Katholischen Kirchenmusik und studierte sowohl in Deutschland als auch im Aufbaustudium in Frankreich.

Seine Lehrer waren keine geringeren als Gisbert Schneider, Professor an der Folkwang-Hochschule in Essen und Schüler des legendären Johannes Ernst Köhler aus Weimar, und vor allem Olivier Latry, Titularorganist an der Kathedrale Notre-Dame de Paris und zugleich einer der weltweit renommiertesten Musiker. „Latry ist für die Orgel vielleicht das, was Horowitz für das Klavier war!“, erzählt mir von Kessel begeistert.


Impulse aus Frankreich


Die dezidierte Erfahrung einer anderen Musiktradition war für von Kessel indes äußerst prägend. „Schon im 19. Jahrhundert hatte Frankreich in der Orgelmusik die Nase vorn, angefangen bei Alexandre Guilmant über César Franck, Louis Vierne, später Jehan Alain, Olivier Messiaen oder Maurice Duruflé – große Namen mit bedeutenden Werken, und das zeigt sich in einem bis heute ungebrochenen vitalen Erbe.“

Schnell machte von Kessel die Bekanntschaft mit
der période classique, verwirrenderweise der französische Begriff für Barockmusik, lernte vor allem aber die dortige Versiertheit im Umgang mit historischen Instrumenten und die spezielle Improvisationskunst kennen.

„In Frankreich hat sich mir in Hinblick auf die Improvisation eine völlig neue Welt eröffnet. Auch im Bereich detaillierter Klangfarben waren sie dort immer maßgebend!“ Umgekehrt kommentierte sein Lehrer Olivier Latry die Situation einmal ironisch. Es gebe zwei Dinge, die man in Frankreich an Bach nicht schätze: dass er deutsch und dass er Protestant gewesen sei, aber man müsse gleichwohl anerkennen, dass er die Nummer Eins sei.

Dies sind auch die Gründe, weshalb von Kessel seinen Studierenden immer wieder nahelegt, eigene Erfahrungen im Ausland zu sammeln, nicht etwa aus Unzufriedenheit an der eigenen Tradition, sondern um Vielfalt zu erfahren.

Dass Vielfalt ein wichtiges Thema für ihn ist, wird an der Fülle seiner eigenen Projekte deutlich. Neben der Lehre an der Weimarer Musikhochschule, zahlreichen eigenen Konzerten sowie den Aufgaben als künstlerischer Leiter der Thüringer Bachwochen schließt dies eine Reihe ehrenamtlicher Verpflichtungen ein.


Orgel wieder populärer


„Die Honorarprofessur an der Hochschule hat für mich allerdings einen besonderen Stellenwert. Zum einen ist es wunderbar, die Studierenden an der Orgel des Doms unterrichten zu können, zum anderen ist mir der Kontakt zum Nachwuchs ungeheuer wichtig, denn der ist auch für die eigene Arbeit beflügelnd!“

Ich frage nach der Bedeutung der Kirchenmusik für das Orgelstudium und von Kessel betont, dass diese hierzulande als beruflicher Überbau für die spätere Anstellung ganz wesentlich sei. „Während ausländische Studierende tendenziell erst einmal die Orgel als Instrument erlernen wollen, kann man innerhalb Deutschlands mit einem reinen Konzertexamen nicht so viel anfangen.“

Für fernöstliche Gefilde gelte dies allerdings nicht. „Ich bin gerade in Tokio gewesen, und da ist die Orgel ein reines Konzertsaalinstrument. Die Konzerte dort sind außerordentlich gut besucht, zum Teil mit über tausend Zuhörern! Natürlich gibt es in Japan auch Christen, aber die haben nicht diese lange Tradition, und so wird musikalisch eben alles auf höchstem Niveau importiert“, begeistert sich von Kessel.

Auf die Frage, ob sich ein Orgelstudium heutzutage überhaupt noch lohne, erklärt er, dass der Markt zwar recht klein sei, das Instrument selbst jedoch wieder populärer wird. Tatsächlich, so der Organist, würden Kirchenmusiker gerade wieder verstärkt nachgefragt. „Vor 30 Jahren hat man vor diesem Studium gewarnt. Jetzt hat sich das wirklich umgekehrt und man kann es guten Gewissens empfehlen, zumal es künftig mehr Stellen als Bewerber geben wird!“

Zwar klagen die Kirchen vermehrt über Austritte, aber dieser Wandel, so erklärt mir von Kessel, gilt institutionell übergreifend, da sich heute kaum noch jemand in einer Sache längerfristig bindet und man vermehrt in Form von Projekten denkt.

„Deswegen halte ich jede Klage über Kirchenaustritte für übertrieben, denn das ist ja ein kulturelles Phänomen und bedeutet nicht, dass die Beschäftigung mit den einzelnen Traditionen, etwa auch der Orgel oder der Kirchenmusik, grundsätzlich nachlassen wird.“

Tatsächlich begreifen auch zeitgenössische Komponisten kirchenmusikalische Formen nach wie vor als besondere Herausforderung. Am 20. September wird nun mit der Missa cum Jubilo von Kessels erstes größeres kirchenmusikalisches Werk uraufgeführt. Im Studium komponierte er einige tonale Quartette mit Verfremdungen durch dodekaphone Elemente.

„Da gab es von einem unserer Lehrer die Rückmeldung, ich solle mich mehr mit Komposition beschäftigen, was mir zeigte, hier nicht ganz auf dem Holzweg zu sein“, sagt von Kessel lachend. Schließlich keimte in ihm vor einigen Jahren der Wunsch, eine Marien-Messe zu komponieren. „Wir befinden uns ja in einem Marien-Dom, also in Frankreich würde man Notre Dame sagen.“


Nächtelang komponiert


Mit allen Unterbrechungen hat von Kessel in seiner noch verbleibenden Freizeit beinahe zwei Jahre an seiner Messe gearbeitet. „Da gab es mehrere Monate, ohne dass ich eine Note schreiben konnte, aber in den intensiven Phasen habe ich immer wieder bis in die Nächte hinein komponiert.“

Als Grundlage bediente sich der Komponist der lateinischen Missa cum Jubilo beziehungsweise ihres einstimmigen gregorianischen Themas. „Man könnte natürlich auch selbst ein Thema komponieren, aber das wäre eher uninteressant, da es ja schon ergiebige und schöne Melodien gibt, die es nur zu heben gilt, zumal damit auch ein Brückenschlag in unsere einzigartige Musikgeschichte stattfindet.“

Das, was heute global gespielt werde, sei ja, beginnend mit der „großen Explosion“ nach der Gregorianik bis hinein in die aktuelle Popularmusik, unser abendländisches System. Zwar gibt es auch indische oder japanische Ritualmusik, aber nicht in einer vergleichbaren Ausdifferenzierung, die eine Epoche des Barocks oder der Romantik ermöglicht.

Antike und Christentum sind auf Linearität und weniger, wie in der fernöstlichen Tradition, auf Zirkularität ausgerichtet.
„So kann man sagen, dass dieser ganze westliche Veränderungswille letztlich christlich geprägt ist.“

Entsprechend werden in der Missa cum Jubilo Tonalität mit Atonalität gepaart oder moderne Klangaspekte mit französischen Anleihen versehen, beispielsweise in Orgelakkorden, die durch Olivier Messiaen inspiriert sind. „Ich will am Ende nicht irgendeinen Avantgardismus befriedigen, und glücklicherweise ist der Zwang dazu heute vorbei.“

Eine Ideologisierung, wie sie sich insbesondere in den 1950er Jahren in Deutschland herausbildete, deutet von Kessel nach wie vor als Avantgarde-Diktat. „Ein Duruflé und sein schönes impressionistisches und groß besetztes Requiem wäre in den 50er Jahren in Deutschland sicher als anachronistisch und rückständig verrissen worden.“

Auch von Kessels Messe wird in großer Orchesterbesetzung erklingen, mit Holz- und Blechbläsern, dazu natürlich Orgel, Harfe, Celesta, Glockenspiel und Röhrenglocken, einem gemischten Chor sowie Kinderchor, Solisten und Streichern. „Und den Text habe ich lateinisch belassen, allein deshalb, weil man die Musik natürlich auch woanders verstanden wissen möchte.“ Glücklicherweise fand sich mit Ries und Erler auch schnell der passende Verleger, der die Entstehung der Messe von Anfang an begleitet hat.

Am Ende unseres Gesprächs frage ich von Kessel noch, wie er den Stellenwert seiner christlichen Prägung in Zeiten wachsender kultureller und globaler Verflechtungen eigentlich einordnet. „Ich habe mit dieser Profilierung anderer Religionen nicht nur kein Problem, sondern sehe darin eine echte Chance selbstbewusst mit der eigenen Prägung umzugehen“, sagt er.

Dass Einflussnahme immer gegenseitig sei, würde merkwürdigerweise von vielen ausgeschlossen oder zumindest nicht bedacht. „Wir haben als abendländische Kultur viel anzubieten und brauchen uns nicht zu verstecken.

[August 2019]

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