Rezeption in Osteuropa der Nachkriegszeit und musikalische Reaktionen darauf: Schostakowitsch, Klebanow, Weinberg

Ein dreiviertel Jahrhundert liegt die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz zurück. Doch unsere Erinnerungskultur ist auf dem Irrweg. Unsere Gesellschaft und unsere Bildungseinrichtungen haben bei dem Thema versagt.

Wenn wir wahrhaftig erinnern wollen, müssen wir uns von ein paar Gepflogenheiten trennen: von sprachlichen Versatzstücken, historischen Legenden und verlogenen Instrumentalisierungen.
Erstens: Es gibt heute wenig zu feiern. Als die Rote Armee in Auschwitz eintraf, waren die Täter getürmt und ein paar tausend fast verhungerte Menschen viel zu erschöpft, um zu jubeln. Ein Großteil der übrig gebliebenen Gefangenen marschierte dem Tod entgegen ins „Reich“.

Zweitens: Auschwitz, so beschwören viele Reden, soll uns zeigen, wohin Hass damals geführt hat und heute führen kann. Das Problem: es handelte sich nur selten um Hassverbrechen. Es waren vor allem Gleichgültigkeit und Gier, die über sechs Millionen Juden ins Ghetto, vor die Maschinengewehre der Einsatztruppen und ins Gas getrieben haben. Gleichgültigkeit der Nachbarn, die bei den Deportationen aus den Fenstern guckten und Gier, um jüdischen Besitz zu plündern. Gleichgültigkeit der Eisenbahner, die die Viehwaggons gen Osten transportierten. Gleichgültigkeit der Soldaten und Wachmannschaften, die doch nur ihre Pflicht taten. Kein Hass. Gier und maschinenhafte Gleichgültigkeit. Beides ist viel tiefer in der menschlichen Seele vergraben und damit gefährlicher und schwerer zu bekämpfen als der allseits zitierte Hass.
Drittens: die ermordeten Juden Europas dürfen wir nicht instrumentalisieren. Nicht für den Kampf gegen rechts, nicht für Warnungen vor der AfD. Dieses monströse Verbrechen verbietet jeden Vergleich mit der deutschen Gegenwart. Wir müssen begreifen: die Juden sind vollkommen umsonst gestorben. Völlig sinnlos. Jede Instrumentalisierung soll nur den Schuldschmerz lindern. Nach dem Motto: Wenigstens rufen wir heute „Nie wieder“. Das tut mal gut...

(Kommentar von Maria Ossowski im rbb vom 26.1.2020): https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2020/01/kommentar-75-jahrestag-befreiung-auschwitz-holocaust.html

Gedenkkonzert am 27.1.2020 unter der Leitung von Daniel Barenboim

Auf dem Programm stehen „Ein Überlebender von Warschau“ von Arnold Schönberg und Symphonie Nr. 3 „Eroica“ von Beethoven.

Barenboim im rbb-Interview: Beethovens Symphonie als „Gegenpart für die Kulturzerstörung durch die Nazis“. Beethoven stehe „für das Allerbeste in der deutschen Geschichte.“ In der NS-Zeit wurde nicht die „Kultur“ zerstört, sondern die Kultur, die den Nationalsozialisten nicht passte. Beethoven gehörte gerade zu den Kulturwerten, die geschätzt und gepflegt wurden, weil sie mit der NS-Ideologie kompatibel waren.

Beethoven begeisterte sich an der französischen Revolution und an der Persönlichkeit Napoleons. Die Große Französische Revolution kann als „Urmutter“ aller modernen Revolutionen betrachtet werden, als Blaupause für den totalitären Terror und die Diktaturen des 20. Jh.

Beethoven war beliebt im NS-Staat und galt zugleich als einer der wichtigsten „proletarischen“ Komponisten in der Sowjetunion, nicht zuletzt durch die Glorifizierung des Heldentums. Speziell die „Eroica“ war eines der meistgespielten Musikwerke im Stalinismus und noch viel mehr im Nationalsozialismus. Viele Aufführungen fanden ebenfalls zu besonderen Anlässen, insbesondere zum Gedenken an den misslungenen Hitler-Putsch am 9.11.1923 (sie gehörte zum Standard-Repertoire zu diesem Anlass), aber auch zum „Heldengedenktag“ (am zweiten Fastensonntag), zum Führer-Geburtstag, etc., der Trauermarsch daraus bei speziellen Trauerfeiern.

„Sinfonie der nationalen Erhebung“:

„(...) So wäre denn die c-moll-Symphonie, sollte auch sie mit einem Worte bezeichnet werden, im Sinne unseres Programms als Symphonie der nationalen Erhebung anzusprechen. (...) Wir träfen den Sinn daher ebenso gut, wenn wir sie >Revolutionssymphonie< benennen und in dem im Finale gezeichneten Helden jenen Bonaparte sehen, den Beethoven – wie ich im Beethovenjahrbuch ausgeführt – mit der Eroica zwar mit einer Widmung erfreuen, aber nicht als unmittelbaren Gegenstand der Dichtung betrachtet wissen wollte. Diese Tatsache, sollte sie weiterhin Stützen finden, würde unsere innere Einstellung zu beiden Symphonien ganz erheblich beeinflussen, und das vage >Per aspera ad astra< in der c-moll-Symphonie würde, umgedeutet in das Bild des Existenzkampfes eines Volkes, das einen Führer sucht und endlich findet, sich in ein Sinnbild verwandeln, das gerade uns Deutschen der Gegenwart in voller Tageshelle entgegenleuchtet“ (Arnold Schering: Zur Sinndeutung der 4. und 5. Symphonie von Beethoven. „Zeitschrift für Musikwissenschaft“ XVI, 1934. S. 83. Zit. nach
Heribert Schröder: Beethoven im Dritten Reich. Eine Materialsammlung. In: Beethoven und die Nachwelt, Bonn, 1986. S. 196)

„Beethovens Dritte Symphonie ist nicht deshalb ein Denkmal germanischen Heldentums, weil sie den Namen >Eroica< führt, sondern weil aus ihren Tönen der Geist des Heldentums spricht.“ (Wolfgang Steinecke in: „Die Musikpflege“ XII/1, April 1941, S. 8)

„Wer begriffen hat, welches Wesen auch in unserer Bewegung wirkt, der weiß, daß ein ähnlicher Drang in uns allen lebt, wie der, den Beethoven in höchster Steigerung verkörperte. Das Stürmende über den Trümmern einer zusammenbrechenden Welt, die Hoffnung auf einen neue Welten gestaltenden Willen; die starke Freude durch leidenschaftliche Trauer hindurch. (...) Einen Tag lang wollen wir uns gestatten, an der größten Herzenserweiterung teilzunehmen im Bewußtsein, daß der Deutsche Beethoven über alle Völker des Abendlandes hinausragt und den besten unter ihnen als ein Zentrum echter Schöpferkraft gilt. Dann aber wollen wir daran denken, daß Beethoven für uns den treibenden Willen zu deutscher Gestaltung abgeben kann und muß. Denn wir leben heute in der Eroica des deutschen Volkes (...)“. (Alfred Rosenberg, 1927)
 

Antisemitismus in Osteuropa nach 1945

Tradition des gewalttätigen Antisemitismus in Osteuropa seit Ende des 19. Jh.: Pogromwellen im Russischen Reich 1881-1883 und 1905-1907. Massaker während des Bürgerkriegs 1918-1922: Vorgeschmack auf den Holocaust. Auf dem Gebiet der heutigen Ukraine kam es zu fast 1200 Pogromen.

Etwa 300.000 polnische Juden haben den Holocaust überlebt (10% der jüdischen Bevölkerung Polens). 1946 Pogrom im polnischen Kielce, bei dem etwa 40 Juden, größtenteils KZ-Überlebende, ermordet wurden. Dadurch wurde eine Fluchtwelle von überlebenden Juden aus Polen ausgelöst.

Anfeindungen waren in den Regionen besonders stark, wo die meisten Massaker stattfanden: Polen, Ukraine, Lettland und Litauen.
 

Die „Nichtexistenz“ des Holocaust im sozialistischen Ostblock

Seit Anfang 1945 wurden in der Sowjetunion, später im gesamten Sowjetblock die Verbrechen des Holocuast systematisch verschwiegen. Es wurde sogar abgestritten, dass die Juden einer speziellen Verfolgung ausgesetzt waren. Alle Formen des Gedenkens wurden tabuisiert.

Das unmittelbar nach dem Krieg vorbereitete „Schwarzbuch über die verbrecherische Massenvernichtung der Juden durch die faschistischen deutschen Eroberer in den zeitweilig okkupierten Gebieten der Sowjetunion und in den faschistischen Konzentrationslagern in Polen während des Krieges 1941-1945“ wurde zunächst zensiert und dann gänzlich verboten. Die bereits gedruckte Auflage wurde eingestampft.

Deutsche Ausgabe: Wassili Grossmann, Ilja Ehrenburg (Hrsg.; für die dt. Ausg.: Arno Lustiger): Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden, Rowohlt, Reinbek 1994
 

Die antisemitische Kampagne in der Sowjetunion der Nachkriegszeit und das „Schwarzbuch“ über den Holocaust

Die Ermordung von Solomon Michoels am 12.Januar 1948 markierte den Beginn der schlimmsten antisemitischen Hetze in der Sowjetunion. Die folgenden Jahre brachten eine „systematische Eliminierung der Juden aus den verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens.“ (Arno Lustiger, Rotbuch: Stalin und die Juden, Berlin 2000, S. 225) Überall wurden Juden diffamiert und entlassen, Tausende von ihnen wurden festgenommen. Der Geheimdienst begann nun, speziell jüdische „Verschwörungen“, „antisowjetische Zentren“ und „nationalistische Organisationen“ zu entlarven und zu liquidieren.

Kampagne gegen „wurzellose Kosmopoliten“ (ab Januar 1949) und die Ärzte-Affäre (1952-53).

Ende der 1940er – Anfang der 1950er Jahre wurde das ganze Land vom der antisemitischen Hysterie befallen. Juden wurden an den Strassen angepöbelt, verprügelt, sie wurden aus den Zügen hinausgeworfen. Viele Menschen wollten nicht zu jüdischen Ärzten gehen, weil sie dachten, sie wären alle Mörder. Man würde aber vergeblich nach offiziellen Dokumenten des Judenhasses suchen. Ganz im Gegenteil: in der Propaganda wurde nach wie vor behauptet, die Sowjetunion wäre ein internationalistisches Land, in dem alle Völker eine freie Entfaltung genießen. Solche Äußerungen Stalins wie „Alle Juden sind Spione“ wurden im engsten Kreis gemacht. Die Öffentlichkeit erfuhr nichts darüber. Während im Dritten Reich der Antisemitismus zur offiziellen Politik geworden war und die Juden per Gesetz diskriminiert, verfolgt und schließlich ermordet wurden, wurde die stalinistische antisemitische Politik auf eine unterschwellige heuchlerische Art durchgeführt. Die entsprechenden Aktionen wurden beispielsweise als Kampf gegen „Kosmopoliten“ oder „Zionisten“ bezeichnet.
 

Dmitri Klebanow (1907-1987): Symphonie Nr. 1 „Babi Jar“ (1945)

Der ukrainisch-jüdische Komponist Dmitri Klebanov (1907–1987) schuf als Erster ein Werk – seine Erste Symphonie – das als künstlerische Reaktion auf die Tragödie von Babi Jar, die Vernichtung der Kiewer Juden Ende September 1941, entstand. Die Symphonie wurde zunächst zur Aufführung angenommen, nach den ersten Proben wurde aber klar, dass dieses Werk keine Chance hatte, im Konzertsaal aufgeführt zu werden. Die dafür zuständigen Kulturfunktionäre waren empört, weil der Komponist Elemente jüdischer Musik benutzte. Denn nach der offiziellen Version wurden nicht Juden im Babi Jar ermordet, sondern „Sowjetmenschen“: „Was sie [die Funktionäre] zu hören bekamen, verschlug ihnen allerdings die Sprache ob seiner Dreistigkeit: das gesamte Themenmaterial der Symphonie war durchzogen von ausgesprochen jüdischen Intonationen. Zur Trauer-Apotheose des Finales sang der Sopran eine Vokalise im Stile der synagogalen Gesänge, die sehr stark an das jüdische Totengebet (Kaddisch) erinnerte. Der Skandal war perfekt.“ (Irma Zolotovitsky, Zufälliges und Nicht-Zufälliges in Schostakowitschs „Jüdischen“ Kompositionen, in: Ernst Kuhn u.a. (Hrsg.), Dmitri Schostakowitsch und das jüdische musikalische Erbe, Verlag Ernst Kuhn, Berlin 2001, S. 110) Die Symphonie wurde erst während der Perestroika uraufgeführt.
 

Jüdische Elemente im Schaffen von Schostakowitsch

Dmitri Schostakowitsch und das jüdische musikalische Erbe (Verlag Ernst Kuhn, Berlin 2001)

Über sein Verhältnis zur jüdischen Folklore sprach Schostakowitsch in seinen Memoiren:

„Ich glaube, wenn man von musikalischen Einflüssen spricht, so hat die jüdische Volksmusik mich am stärksten beeindruckt. Ich werde nicht müde, mich an ihr zu begeistern. Sie ist so facettenreich. Sie kann fröhlich erscheinen und in Wirklichkeit tief tragisch sein. Fast immer ist es ein Lachen durch Tränen. Diese Eigenschaft der jüdischen Volksmusik kommt meiner Vorstellung, wie Musik sein soll, sehr nah. Die Musik muss immer zwei Schichten enthalten. Die Juden wurden so lange gequält, dass sie es gelernt haben, ihre Verzweiflung zu verbergen. Ihre Verzweiflung drücken sie in Tanzmusik aus. Jede echte Volksmusik ist schön, aber von der jüdischen muss ich sagen, sie ist einzigartig.

Viele Komponisten, auch russische, haben jüdischer Musik intensiv zugehört. Mussorgski zum Beispiel setzte sehr sorgsam jüdische Lieder in seinen Kompositionen um. Viele meiner Stücke spiegeln den Eindruck jüdischer Musik. Das ist keine rein musikalische Frage, es ist auch eine moralische. Oft prüfe ich einen Menschen an seiner Einstellung zu den Juden. Heutzutage kann kein Mensch, der den Anspruch auf Anständigkeit erhebt, Antisemit sein.“

Das 2. Klaviertrio: Es ist dem Andenken an Iwan Sollertinski, einen Musikwissenschaftler und Schostakowitschs engen Freund, gewidmet. Gleichzeitig lässt das Werk, dessen Finale unverkennbar jüdisches Kolorit besitzt, auch eine andere Inhaltsebene erkennen – die Reaktion auf antisemitische Verfolgungen und die Vorausahnung der drohenden Katastrophe. Wie bedeutsam für Schostakowitsch gerade dieses „jüdisches“ Finale war, beweist die Tatsache, dass er dessen Hauptthema später in seinem – autobiographischen – 8. Streichquartett (1960) wieder benutzte. Die meisten „jüdischen“ Werke Schostakowitschs entstanden dann Ende der 1940er bis Anfang der 1950er Jahre, als der Antisemitismus in der Sowjetunion offen makabre Züge annahm. Es gibt zahlreiche Zeugnisse dafür, dass Schostakowitsch sich in einem sehr starken Maße mit verfolgten Juden identifizierte. Eine Rolle spielte dabei auch der Umstand, dass viele Juden zu seinem engsten Freundeskreis zählten. Dazu gehörte auch der Komponist Mieczysław (Moissej) Weinberg (1919-1996), ein polnischer Jude, der 1939 in die Sowjetunion geflohen war. Schostakowitsch schätzte ungewöhnlich hoch das Talent der jungen Komponisten, den er 1943 kennen lernte.

In seinen Memoiren äußerte Schostakowitsch, dass all seine Symphonien Grabmale sind für die Menschen, die keinen Grab haben – auch viele seine Freunde seien darunter. Das Thema Tod spielt auch im 2. Klaviertrio eine dominierende Rolle. Und nicht nur, weil es dem Andenken an einen 1944 verstorbenen Freund – dem russischen Musikwissenschaftler Iwan Sollertinski – gewidmet ist. Es wird spätestens im „jüdischen“ Finale eindeutig klar, das wie ein Totentanz anmutet. Man denke an die mittelalterlichen Darstellungen des tanzenden Skelettes. So sieht man hier an manchen Stellen förmlich diesen tanzenden Tod und hört die Knochen klappern. Solomon Volkov nannte das Finale des Klaviertrios Nr. 2 „the most striking of all possible commentaries on the Holocaust“.
 

13. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch

  1. Бабий Яр (Babij Jar): Adagio
  2. Юмор (Humor): Allegretto
  3. В магазине (Im Laden): Adagio
  4. Страхи (Ängste): Adagio
  5. Карьера (Eine Karriere): Allegretto
     

Versuche, die Aufführungen zu verhindern. UA in Moskau im Dezember 1962. Zweite Aufführung in Minsk im März 1963. Zeitungskritik: „Der Dichter und nach ihm der von allen geliebter Komponist, der eigentlich ein großer Denker ist, machen aus einem unbedeutenden Vorfall beinahe eine Volkstragödie. Man spürt unweigerlich diesen falschen Zugang und man kann nicht umhin, ihn innerlich abzulehnen.“

Ursprünglich wollte Schostakowitsch nur Babij Jar vertonen, aber als Jewtuschenko ihm einen seiner Gedichtbände gab, wählte er die drei der vier weiteren Werke Humor, Im Laden und Eine Karriere aus. Ängste wurde vom Dichter extra für Schostakowitsch geschrieben, der sich von der Botschaft des Textes angezogen fühlte, auch wenn er ihn „recht lang und ein wenig zu wortreich“ fand.

Jedes Gedicht stellt einen eigenen Aspekt des sowjetischen Lebens dar: Ängste warnt vor Selbstgefälligkeit und erinnert an die Zeit unter Stalin, Im Laden ist ein ehrfurchtsvoller Tribut an die sowjetischen Frauen, Humor und Eine Karriere haben satirischen Inhalt, denn es wird die Macht des Witzes über die Autorität beschrieben und es werden die verspottet, die versuchen, sich selbst damit einzuschmeicheln.
 

„Passagierin“ von Mieczyslaw Weinberg (1919-1996)

Weinberg wurde 1919 in Warschau geboren, der Stadt mit der größten jüdischen Bevölkerung Europas. In Weinbergs Geburtsjahr lebten dort etwa 320 000 Juden, die 42 Prozent der Bevölkerung Warschaus stellten. Weinbergs Vater Samuil war ein begabter jüdischer Musiker, der sich als musikalischer Leiter eines jiddischen Theaters und als Geiger einen Namen machte, die Mutter war Pianistin. Mieczysław trat bereits mit 10 Jahren als klavierspielendes Wunderkind auf, mit 12 wurde er ans Konservatorium aufgenommen, mit 16 schrieb er Musik zu einem Film. Kein geringerer als Józef Hofmann (1876–1957; einer der bedeutendsten Pianisten des 20. Jahrhunderts) prophezeite ihm eine Weltkarriere. Im Sommer 1939 legte Weinberg seine pianistische Abschlussprüfung ab. Nach dem Beginn des Krieges versuchte die Familie aus Warschau zu fliehen, dies gelang jedoch nur Mieczysław allein. Seine Eltern und seine Schwester, ebenfalls eine Musikerin, wurden aus dem Warschauer Ghetto ins Zwangsarbeiterlager Trawniki deportiert, wo sie Wehrmachtsuniformen herstellten. Sie wurden 1943 bei der Liquidation des Lagers ermordet.

Weinberg hatte ein enormes Glück, denn im Unterschied zu vielen jüdischen Flüchtlingen, die von den sowjetischen Behörden zurück auf das von Deutschen besetzte Territorium abgeschoben oder gleich in den Gulag deportiert wurden, wurde er aufgenommen. Er gelangte zunächst nach Minsk, wo er sogar schon im selben Jahr seine Ausbildung in der Kompositionsklasse von Wassili Solotarjow am dortigen Konservatorium fortsetzen durfte. Als die deutschen Truppen im Juni 1941 (einen Tag nach seinem Abschlussexamen) die Sowjetunion überfielen, flüchtete Weinberg nach Mittelasien. Dort lernte er Natalia Wowsi-Michoëls kennen, die Tochter des bedeutenden jiddischen Schauspielers und Vorsitzenden des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (damals der einzigen zugelassenen jüdischen Repräsentanz) Solomon Michoëls. Die jungen Leute heirateten bald und zogen 1943 nach Moskau. Einer der ersten Menschen, die Weinberg in Moskau traf, war Dmitri Schostakowitsch. Diese Begegnung wurde zum Beginn einer Freundschaft und eines intensiven künstlerischen Austauschs, Weinberg gehörte zu Schostakowitschs engstem Freundeskreis. Dieser zählte Weinberg zu den besten Komponisten jener Zeit.

In seinen letzten Lebensjahrzehnten führte Weinberg in der Sowjetunion eine Art Schattendasein. Seine Stellung im Musikleben war gewissermaßen paradox: In der Moskauer Musikszene von den Komponisten-Kollegen und von einigen herausragenden Interpreten wie Mstislav Rostropowitsch, Emil Gilels, David Oistrach oder Kirill Kondraschin außerordentlich hoch geschätzt, blieb er breiteren Musikkreisen und der musikinteressierten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Seine Musik wurde nur wenig gespielt, und über siebzig Prozent seiner Werke wurden zu seinen Lebzeiten nicht gedruckt. Weinberg komponierte Musik zu einigen der bekanntesten sowjetischen Filme, aber sogar diese Tatsache trug nicht zu seiner Popularität bei. Er war ein ausgesprochener Außenseiter, obwohl er Mitglied des sowjetischen Komponistenverbandes war und immerhin einige offizielle Ehrungen entgegennehmen durfte. Über 50 Jahre lang lebte Weinberg in Moskau, dennoch befand er sich quasi in einer Parallelwelt: er beteiligte sich nicht an dem gängigen Musikbetrieb, dem Verteilungskampf um Aufträge und Privilegien, Auslandsreisen und Publikationen. Er war jüdisch, trat nicht der Kommunistischen Partei bei und sprach russisch mit einem ausgeprägten ausländischen Akzent. Wenn man schließlich bedenkt, dass Weinberg ein ungewöhnlich bescheidener und zurückhaltender Mensch war, erklärt es vielleicht zumindest zum Teil, warum ein Komponist, dessen Werk gegenwärtig eine schnell wachsende Anerkennung und Bewunderung rund um die Welt genießt, zu seinen Lebzeiten derart vernachlässigt wurde. Er kümmerte sich selbst nicht um die Verbreitung seiner Werke – er bekannte einmal, dass das Schicksal seiner Werke ihn nach deren Vollendung kaum mehr interessiere. Stattdessen arbeitete er konzentriert, Hunderte von Kompositionen in allen Gattungen aus seiner Feder sind der beste Beweis dafür.

Weinbergs Lebensabend war durch eine schwere, unheilbare Krankheit geprägt, die letzten drei Jahre konnte er sein Haus nicht mehr verlassen. Als er im Februar 1996 starb, wurde sein Tod in Russland wie auch im Ausland kaum wahrgenommen. Zwei Tage vor seinem Tod hatte Weinberg in einem Gespräch besonders bedauert, dass er seine Oper „Die Passagierin“, deren Handlung in Auschwitz spielt, nie auf der Bühne sehen konnte. Diese Oper war 1968 entstanden und wurde – wie so viele andere Werke Weinbergs – zu seinen Lebzeiten nie aufgeführt. Dies hatte aber noch einen besonderen Hintergrund. Obwohl die Oper kurz nach ihrer Vollendung am Bolschoi-Theater angenommen worden war und sogar die Proben schon begonnen hatten, wurde die geplante Aufführung verboten: in der Sowjetunion durfte der Holocaust in keiner Weise öffentlich thematisiert werden. Erst 2006 fand in Moskau eine erste konzertante Darbietung der „Passagierin“ statt. Ihre szenische Uraufführung bei den Bregenzer Festspielen 2010 markierte einen vorläufigen Höhepunkt der internationalen Wiederentdeckung von Mieczysław Weinberg, die wenige Jahre nach dessen Tod einsetzte.
 

Jewhen Stankowytsch (*1942): Requiem-Kaddisch „Babi Jar“ für Sprecher, Bass-Stimme, Chor und Orchester (1991)

Eine chritliche Interpretation des Holocaust. Das Werk ist im staatlichen Auftrag entstanden.