Nationalsozialistische Kulturpolitik und -organisation. Regimekonforme Musik im Nationalsozialismus

Vor Neuerungen der Musik muss man sich in Acht nehmen; denn dadurch kommt alles in Gefahr. [...] Nirgends wird an den Gesetzen der Musik gerüttelt, ohne dass auch die höchsten Gesetze des Staates ins Wanken geraten. [...] Dort müssen also die Wächter ihr Wachhaus bauen: in die Nähe der Musik. – Ja, Gesetzlosigkeit dringt leicht in die Musik ein, ohne dass man es gewahr wird. – Freilich, sie scheint dort bloß Spiel zu sein und ohne üble Wirkung zu bleiben. – Sie hat ja auch keine andere Wirkung [...] als dass sie sich allmählich festsetzt und heimlich auf den Charakter und die Fähigkeit überträgt, dann weiter und offener um sich greift und das bürgerliche Leben vergiftet, dann mit großer Frechheit die Gesetze und die Verfassung angreift, bis sie schließlich alles zerstört, das ganze Leben des einzelnen sowohl wie der Gesamtheit.

(Platon: Der Staat (Politeia), Übersetzt von August Horneffer, Stuttgart 1943, S. 119)
 

Diese Passage aus dem berühmten, um 360 v.u.Z. entstandenen Dialog „Politeia“ Platons stellt vermutlich das früheste Beispiel einer Abhandlung über die Rolle der Musik in der Gesellschaft dar. Bezeichnend ist, dass es sich dabei um einen dezidiert totalitären Gesellschaftsentwurf handelt. Mit seinem idealen, auf absoluter Gerechtigkeit und Vernunft basierenden Staatsmodell war Platon seiner Zeit weit voraus. Während die frühen Systeme totaler Herrschaft religiös legitimiert waren, brachte erst das 20. Jahrhundert mehrere totalitäre Gesellschaften hervor, die auf säkularen Ideologien gründeten. In jedem Fall waren die derartigen – religiös oder säkular geprägten – Systeme darauf ausgerichtet, alle Lebens- und Kulturbereiche ihrer Untertanen zu kontrollieren und sie mehr oder weniger aktiv zu gestalten. Die Musikausübung war dabei keine Ausnahme.

Von den totalitären Regimen des 20. und 21. Jahrhunderts ist der deutsche Nationalsozialismus bislang wohl am meisten erforscht. In den fast 75 Jahren seit dem Zusammenbruch des NS-Deutschlands konnte eine komplexe Auswertung von dessen Auswirkungen auf das Musikleben im Laufe einer offenen Auseinandersetzung mit dem Thema stattfinden.

Parallelentwicklungen im Musikleben im NS-Deutschland und in der Sowjetunion

Die Machtübernahme durch die NSDAP in Deutschland fand bekanntlich fast um die gleiche Zeit wie der 1928-1932 vollzogene „Große Umbruch“ (Stalin) in der Sowjetunion statt. Die Gleichschaltung im Musikbereich hatte ähnliche Dimensionen und Erscheinungsformen – in Deutschland war damals eine nationalsozialistische Kulturorganisation aktiv, die mit der Russischen Assoziation Proletarischer Musiker RAPM (und deren Pendants auf anderen Kulturgebieten) vergleichbar war: Der Kampfbund für deutsche Kultur (KfdK) wurde 1928 vom NS-Chefideologen Alfred Rosenberg (1893–1946) in Hitlers Auftrag gegründet (zunächst als Nationalsozialistische Gesellschaft für deutsche Kultur, NGDK) und vertrat radikal-fundamentalistische Positionen.

Ähnlich wie die RAPM in der Sowjetunion, die für die „Reinheit“ der proletarischen Musik gegen jegliche nichtproletarischen Einflüsse kämpfte, ging der KfdK gegen jede Art von „nichtdeutscher“ Kultur vor. Es gab außerdem einige gemeinsame Feindbilder: Beide Organisationen lehnten die musikalische Moderne generell ab, beide bekämpften die sogenannte „Amerikanisierung“ des Kulturbetriebs, insbesondere den aus Amerika stammenden Jazz.

Gemeinsam war auch der ausgeprägte moralische Impetus in der Kulturpolitik – während es den „proletarischen Musikern“ in der Sowjetunion um das geistige Wohl der Werktätigen ging, sorgten sich die Aktivisten des KfdK um die Rettung der deutschen Kultur vor der Zersetzung durch den „judenbolschewistischen“ Einfluss. Schließlich lehnten beide Gruppen Werke von Künstlern mit unerwünschter Herkunft – in Russland adliger und großbürgerlicher, in Deutschland jüdischer Abstammung – unabhängig von ihrem jeweiligen ästhetischen Gehalt ab.

Den Höhepunkt seiner Macht im deutschen Kulturleben erreichte der KfdK ebenso wie die RAPM zu Beginn der 1930er Jahre. Um diese Zeit lancierte sie landesweit Hetzkampagnen gegen Dutzende von herausragenden deutschen Kulturschaffenden. Während der ersten Beteiligung der NASDP an der Landesregierung in Thüringen 1930–1931 wurde das Weimarer Bauhaus als Laboratorium der Moderne mithilfe des KfdK zerschlagen.

Unter dem nationalsozialistischen Thüringer Innen- und Kulturminister Wilhelm Frick spielte dabei vor allem der zum „Kultur-, Kunst- und Theaterreferenten“ ernannte Gauleiter des KfdK Hans Severus Ziegler (1893–1978) eine wichtige Rolle, der praktisch das gesamte Kulturleben in Thüringen kontrollierte und im nationalsozialistischen Geist gestaltete.

Der KfdK beteiligte sich nach der NS-Machtübernahme an der Bücherverbrennung im Mai 1933 und es schien zunächst, als ob er dauerhaft zu einer treibenden Kraft im Kulturleben avancieren sollte. Allerdings war das Regime nach seiner schnellen Stabilisierung nicht gewillt, den vom KfdK betriebenen Kulturpogrom weiter fortzusetzen. 1934 wurde der KfdK in die Nationalsozialistische Kulturgemeinde überführt (die ihrerseits Teil der Deutschen Arbeiterfront war) und somit seiner führenden Position im Kulturbetrieb endgültig enthoben. Im innerparteilichen Kulturstreit innerhalb der NSDAP gewannen – genauso wie vorher in Fragen der Wirtschaftspolitik – pragmatische Auffassungen.

Die Fundamentalisten um Alfred Rosenberg wurden an den Rand gedrängt und die Kompetenzen in der Kulturpolitik wurden im Propagandaministerium von Joseph Goebbels konzentriert. Der harte Kern des KfdK gruppierte sich fortan um das neu gebildete parteiinterne „Amt Rosenberg“, dessen Einfluss jedoch im Vergleich zu den von Goebbels kontrollierten staatlichen Institutionen begrenzt war. Der NS-Staat war nicht an weiterer blinder Zerstörung der Kultur interessiert, vielmehr wurde versucht, die existierenden Kulturkapazitäten in den Dienst des neuen Staats zu stellen.

Ähnliche Tendenzen haben sich auch in der Sowjetunion durchgesetzt. Im April 1932 wurden nach einem Beschluss des ZK der KPdSU alle Künstlervereinigungen, darunter auch die RAPM, aufgelöst. Die Kultur wurde vollständig verstaatlicht, und die Kulturschaffenden wurden nun in Künstlerverbänden organisiert, die unmittelbar von staatlichen Gremien kontrolliert und gelenkt wurden. Im Vergleich zum Fundamentalismus der RAPM und deren Willkür war das eine signifikante Verbesserung der Lage der Künstler. Die Hochkultur bekam wieder eine Chance, sofern sie nicht in Opposition zum Sowjetregime stand.

In beiden Diktaturen haben die Machthabenden ein zu enges, komplett ideologisiertes ästhetisches Konzept der Musik verworfen. Als Mittel im Kulturkampf war es effektiv, im etablierten totalitären System erwies es sich für die Herrschaftselite nunmehr als kontraproduktiv.

Der etablierte Staat – die Sowjetunion nach dem „Großen Umbruch“ ebenso wie das nationalsozialistische Deutschland – sah für die Musik wichtige repräsentative, staatstragende Funktionen vor, er brauchte keinen Krawall mehr und keine endlose Zerstörung.

In beiden Diktaturen fand fast zu gleicher Zeit eine Stabilisierung des Musikbetriebs statt, der keine extremistischen Tendenzen mehr praktizierte. Voraussetzung dafür war eine aktive Mitarbeit von professionellen Musikern, die sich schnell anpassten und die Ideologie verinnerlichten. Es war nicht mehr nötig, dass jedes Werk ideologisch geprägt war, die Komponisten standen aber zur Verfügung, wenn der Staat es von ihnen verlangte. Der Staat hat erkannt, dass begabte und gut ausgebildete Komponisten diese Aufgaben viel besser erfüllen konnten als fanatische Stümper.
 

Die Reichsmusikkammer

Im totalitären Staat ist jede Musik staatstragend oder sie ist verboten. Es geht daher nicht nur um ideologisch geprägte Werke. Während die Fanatiker von der RAPM oder dem KfdK versuchten, die Musikkultur gemäß der herrschenden Ideologie drastisch zu reduzieren, verstand der pragmatische Mainstream letztlich, dass man die vorhandenen Kulturwerte für eigene Zwecke nutzen konnte, ohne sie sinnlos zu vernichten. Joseph Goebbels betonte in diesem Zusammenhang, dass Musikwerke kein „vertontes Parteiprogramm“ sein sollten.

Die im Herbst 1933 gegründete Reichkulturkammer sollte dann nicht nur ein Instrument der staatlichen Überwachung und Kontrolle des gesamten Kulturbetriebs sein, sondern auch dessen Professionalität sicherstellen und die Kulturschaffenden von der Willkür der radikalen Ideologen schützen. Das Verhältnis zwischen dieser staatlichen Kulturinstitution und den früheren Aktivisten des KfdK im „Amt Rosenberg“ war nicht spannungsfrei.

Einerseits wurden zwar einige ehemalige Funktionäre des KfdK, wie etwa dessen frühere Reichsorganisationsleiter Hans Hinkel, nun mit wichtigen Funktionen innerhalb der Reichskulturkammer betraut: Hinkel wurde der Dritte Geschäftsführer der RKK und als „Reichskulturwalter“ u.a. für die „Entjudung“ der deutschen Kultur und Überwachung des Jüdischen Kulturbundes zuständig. Auf der anderen Seite versuchte das Amt Rosenberg immer wieder weiterhin, seine eigene radikale Agenda durchzusetzen, und positionierte sich somit in direkter Konfrontation zum Goebbels-Ministerium.

Niemand von uns ist der Meinung, dass Gesinnung Kunst ersetzen könnte. Auch bei der Kunst kommt es nicht darauf an, was man will, sondern vielmehr darauf, was man kann. Die Gesetze der Kunst können niemals geändert werden, sie sind ewig und nehmen ihre Maße aus den Räumen der Unsterblichkeit. […] Was wir wollen, ist mehr als dramatisiertes Parteiprogramm.

(Aus der Rede von Joseph Goebbles bei der Eröffnung der Reichskulturkammer im November 1933, zit. nach: Fritz Trümpi: Politisierte Orchester. Die Wiener Philharmoniker und das Berliner Philharmonische Orchester im Nationalsozialismus, Böhlau Verlag, Wien-Köln-Weimar, 2011, S. 237)

Die politische Bewegung, die das Reich führt, hat niemals in ihrem Parteiprogramm die Forderung nach einer spezifisch parteimäßig gebundenen Kunst aufgestellt […]. Der nationale Wert eines zeitgenössischen Gemäldes richtet sich nicht nach der Zahl der im Bild dargestellten S.A.-Männer, und die nationale Dichtung im Sinne unserer Bewegung ist nicht die Standarten- und Fanfarenlyrik, die den Mangel an Stimmung und Form durch hochtönende Worte zu ersetzen versucht. Für unsere Musik gilt dasselbe.

(Baldur von Schirach, zit. nach: ebd., S. 237-238)

Ende der 1930er Jahre zählte die Reichsmusikkammer 172.443 Mitglieder, davon 3.500 Komponisten.

Zwischen 1933 und 1945 hatte das deutsche Musikleben einen beachtlichen Stand, sowohl an Qualität wie an Menge der Beiträge zu Konzert und Oper, Musikerziehung, Interpretation, Komposition. [Die Politik war] auf die Organisation eines statistisch beachtlichen und künstlerisch hochstehenden Musikbetriebes konzentriert, der auch noch das letzte Dorf erreichen sollte.

(Fred Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt am Main 1982)

Auch das klassische Kulturerbe sollte den nationalsozialistischen Zielen dienen. Johann Sebastian Bach wurde zum Inbegriff „deutscher Stammesart“ interpretiert, wie es in einem Aufruf führender protestantischer Kantoren vom Frühjahr 1933 stand. Sie wollten unter anderem verhindern, dass „unserem Volk eine nichtbodenständige, kosmopolitische Kirchenmusik dargeboten wird“.

(zit nach: Götz Aly, Wolf Gruner u.a. (Hg.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Band 1: Deutsches Reich 1933-1937, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2008, S. 33)

Der Aufruf wurde von Günther Ramin mitinitiiert, der später von 1940 bis zu seinem Tod 1956 Thomaskantor in Leipzig war.
 

Unterhaltungsmusik in der NS-Zeit

Die Band „Charlie and His Orchestra“ war einige Jahre lang eine Art „Hausband“ des Propaganda-Ministeriums: Die bekannten Titel wurden zu Propagandazwecken umgetextet und im deutschen Radio fürs Ausland gesendet. Auch andere Bands waren in der NS-Zeit populär, wie etwa „Die Goldene Sieben“, die 1934 mit ausdrücklicher Zustimmung des Regimes gegründet wurde.

Im besetzten Paris spielte bis zum Ende des Krieges völlig unbehelligt eine Jazz-Band mit dem berühmten Sinti-Gitarristen Django Reinhardt und einigen afroamerikanischen Jazzmusikern. Im nationalsozialistischen Deutschland wurde die Unterhaltungsmusik genauso wie in der Sowjetunion als „Gutelaune-Macher“ geschätzt und gefördert, auch wenn die offizielle Propaganda immer wieder gegen bestimmte Gattungen und einzelne Musiker hetzte.

→ Charlie and his orchestra (YouTube-Video)

Die Band „Die Goldene Sieben“ wurde 1934 in Berlin durch den Gitarristen Harold M. Kirchstein (alias Henri René) und den Pianisten Willi Stech gegründet. Stech war Mitglied der NSDAP und wirkte zuvor als Hauspianist und Programmgestalter im Berliner Deutschlandsender:
→ Aufnahme von 1935 (YouTube-Video)

Der Saxophonist Teddy Stauffer: "Teddy And His Band"
→ Aufnahme von 1939 (YouTube-Video)

Der Pianist Albert Vossen (1910-1971) machte sich in den 1930er Jahren als Swing-Pianist einen Namen, er wirkte später im 1942 gegründeten Deutschen Tanz- und Unterhaltungsorchesters in Prag, einer Big Band, die vom Propaganda-Ministerium unterstützt wurde:
→ Aufnahme von 1941 (YouTube-Video)

Auch für homosexuelle Künstler wie etwa Claire Waldoff (1884-1957) fanden sich Freiräume. Sie wurde in die Reichsmusikkammer aufgenommen und trat u.a. bei der Truppenbetreuung im besetzten Paris auf.

In Bezug auf die musikalische Moderne spielten die ästhetischen Kriterien ebenfalls praktisch keine Rolle. Sogar die wenigen im Nazi-Machtbereich verbliebenen Vertreter der experimentellen Moderne der Schönberg-Schule wurden nicht verfolgt und deren Musik war nicht verboten.

Als einziges striktes Ausschlusskriterium erwies sich letztlich die unerwünschte persönliche Herkunft: Die Juden hatten keine Chance auf eine Beteiligung am Musikleben.
 

Der Fall Paul Hindemith

Bereits Ende der 1920er Jahre wurde Hindemith zur Zielscheibe für heftige Angriffe durch die völkische Presse und die Aktivisten des Kampfbundes für deutsche Kultur (KfdK). 1930 musste eine in Dresden geplante Aufführung seines Einakters Sancta Susanna in letzter Minute abgesetzt werden, da Störungen der Veranstaltung angedroht werden.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Hindemith von den fundamentalistischen Kreisen um Alfred Rosenberg weiterhin als „Bannerträger des Verfalls“ und seine Musik als „kulturbolschewistisch“ bezeichnet. Dagegen versuchte das Goebbels-Ministerium ihn zu vereinnahmen und als Aushängeschild der „Deutschen Musik“ zu instrumentalisieren. Im Februar 1934 wurde er in den Führerrat der Reichsmusikkammer gewählt.

Die Auseinandersetzung eskalierte nach der erfolgreichen Uraufführung von Hindemiths Sinfonie Mathis der Maler durch Wilhelm Furtwängler und die Berliner Philharmoniker im März 1934.

In diesem Streit um Hindemith, der zeitweise auf dem besten Weg zu einer Stellung als „Staatskomponist“ war, wurde Rosenberg letztlich von Hitler unterstützt, wodurch Goebbels eine Niederlage einstecken musste. In einer Rede vor der Reichskulturkammer am 6. Dezember 1934 diffamierte er Hindemith, worauf dieser bereits am gleichen Tag den Direktor der Berliner Musikhochschule um seine Beurlaubung auf unbestimmte Zeit bat.
 

Propaganda-Musik

Seit Monaten gehen dem Führer Stöße von Kompositionen zu. Jeder Komponist bittet, sein Werk dem Führer widmen zu dürfen. Da jedoch die hierzu erforderlichen Nachprüfungen nicht möglich sind, wird dringend gebeten, die Kompositionen den Verlegern zur Begutachtung vorzulegen.

(Zeitschrift für Musik, Regensburg, Oktober 1933, zit. nach: Fred Prieberg: Musik im NS-Staat, S. 122)

Wenn irgend etwas im neuen Deutschland unter den Begriff des »nationa¬len Kitsches« fällt, dann ist es zweifellos die große Mehrzahl der seit einem halben Jahr auf den Markt geworfenen Liederbücher für Schule, Volk, S.A. usw. Hemmungsloser Geschäftsgeist, fachliches Unvermögen und geschmacklose Unkultur reichen sich in diesen Erzeugnissen oft die Hand zu einem Bund, dem an Minderwertigkeit kaum etwas zur Seite gestellt werden kann.

(Reinhold Zimmermann: Nationalsozialistische Liederbücher, Deutsche Kulturwacht, Berlin, 18. November 1933, zit. nach Fred Prieberg: Musik im NS-Staat, S. 123)

Fallbeispiel: der Komponist Franz Ludwig 1889-1955) aus Münster.
1936: Mitglied der Reichsmusikkammer
1937: Eintritt in die NSDAP

Er komponierte zwischen eine ganze Reihe von Werken, die der nationalsozialistischen Ideologie dienten, darunter die Parteitagsmusik Der Tag von Nürnberg (1934), die Kantate An den Führer (ca. 1939) oder die Kampflieder Marschierer des Sieges und Soldaten im Braunhemd (1940). Speziell die Kantate An den Führer wurde nach einer Inszenierung in Hagen 1940 als „Werk, aus dem Verehrung und Liebe für den Führer sprechen“ gefeiert.
Dokumentation in: https://www.muenster.de/stadt/strassennamen/franz-ludwig-weg.html
 

Versuche einer ästhetischen Doktrin

An die Stelle einer zermürbenden Schlaffheit, die vor dem Ernst des Lebens kapitulierte, ihn nicht wahrhaben wollte oder vor ihm flüchtete, trat jene heroische Lebensauffassung, die heute durch den Marschtritt brauner Kolonnen klingt, die den Bauern begleitet, wenn er die Pflugschar durch die Ackerschollen zieht, die dem Arbeiter Sinn und höheren Zweck seines Da¬seinskampfes zurückgegeben hat, die den Arbeitslosen nicht verzweifeln läßt und die das grandiose Werk des deutschen Wiederaufbaues mit einem fast soldatisch anmutenden Rhythmus erfüllt. Es ist eine Art von stählerner Romantik, die das deutsche Leben wieder lebenswert gemacht hat, eine Romantik, die sich nicht vor der Härte des Daseins versteckt oder ihr in blauen Fernen zu entrinnen trachtet, eine Romantik, die den Mut hat, den Problemen gegenüberzutreten und ihnen fest und ohne Zucken in die mit-leidslosen Augen zu schauen.

(Aus der Rede von Joseph Goebbles bei der Eröffnung der Reichskulturkammer am 15. November 1933, zit. nach: Fred Prieberg, Musik im NS-Staat, S. 113)

Nur mögen unsere jungen Tonsetzer, denen diese Aufgabe obliegt, nicht vergessen, im Kampfe um die nationale Revolution der Musik sich zum Vorbild und Wegweiser den politischen Nationalsozialismus zu nehmen, der eben deshalb, weil er national ist, auch sozialistisch ist. Das heißt: als revolutionäre Musiker können sie nur neue Musik schaffen, als nationale Musiker nur deutsche, als sozialistische Musiker aber haben sie mit solcher Musik den Anfang zu machen, die jedes fähige und gutwillige Ohr in unserm Volke auch ohne »Schulung« und »Bildung« hörend aufnehmen kann.

(Richard Münnich: Die nationale Revolution in der Musik, Zeitschrift für Schulmusik, 1. Mai 1934, zit. nach: Fred Prieberg, Musik im NS-Staat, S. 113)

Wie jede andere Kunst, so entspricht die Musik geheimnisvollen, tiefen Kräften, die im Volkstum verwurzelt sind. Sie kann deshalb auch nur von den Kindern des Volkstums dem Bedürfnis und dem unbändigen Musiziertrieb eines Volkes entsprechend gestaltet und verwaltet werden. Judentum und deutsche Musik, das sind Gegensätze, die ihrer Natur nach in schroffstem Widerspruch zueinander stehen.

(Joseph Goebbels: Zehn Grundsätze deutschen Musikschaffens. In: Amtliche Mitteilungen der Reichsmusikkammer, Jg. 5, Nr. 11, 1.6.1938)

Musikpolitik bedeutet uns heute: Einsatz der Musik als volksbildende und staatserhaltende Lebensmacht und Förderung des Schutzes und vor allem des Wachstums der deutschen Tonkunst als blutgebunden-seelischer Ausdrucksform und demgemäß als Mittel höherer Erkenntnis und höherer Entwicklung unserer Rasse. Musikpolitik ist somit – wie selbstverständlich die gesamte Kunstpolitik – eine wesentliche Teilaufgabe der politischen Volks- und Menschenführung.

(Der Musikreferent der Reichsjugendführung Wolfgang Stumme in: Wolfgang Stumme, Musik im Volk, Berlin 1944, S. 11) 

Während in der Sowjetunion zumindest eine ästhetische Scheindoktrin (der „sozialistische Realismus“) etabliert wurde, blieb ein ähnliches Unterfangen in Deutschland in den Anfängen stecken. Während die ästhetischen Parallelen in der Propagandakunst der beiden Diktaturen offensichtlich sind, war es in Deutschland ähnlich problematisch, die ganze Bandbreite des existierenden Kunstschaffens unter dem Dach einer Theorie zu vereinen. So blieb ein „Nationalsozialistischer Realismus“ (Fred Prieberg) aus, obwohl es an Versuchen dieser Art keinen Mangel gab.

Immer wieder wurde eine Musik angemahnt, die „erfüllt ist von einer nationalsozialistischen Idee. […] Als revolutionäre Musik wird sie fortschrittlich und neu sein, als nationale Musik wird sie deutsch sein und als sozialistische Musik wird sie von dem Herzen eines jeden Volksgenossen ohne Rücksicht auf Alter, Stand und Geschlecht aufgenommen und verstanden werden.“ (F.W. Herzog: Was ist deutsche Musik?, in: Die Musik, XXVI/11, August 1934, S. 806)

Fred Prieberg resümiert: „Definitorische Ansätze zu einer musikästhetischen Vorstellung sind unverkennbar, die als ‚nationalsozialistischer Realismus‘ in die Geschichte der Musik – und ihrer Gängelung – hätte eingehen können, wenn sich ein Theoretiker von Rang die Mühe gegeben und wenn Goebbels oder Hitler verstanden hätte, welcher nützlicher Kanon zur Bestimmung kompositorischer Verhaltensweisen ihnen damit geschenkt gewesen wäre.“ (Fred Prieberg: Musik im NS-Staat, S. 113)

Es ist allerdings fraglich, ob es tatsächlich daran lag, dass Goebbels und Hitler etwas „nicht verstanden hätten“. Wenn man sich die praktischen Auswirkungen des „Sozialistischen Realismus“ auf das musikalische Schaffen in der Sowjetunion vor Augen führt, wird klar, dass diese in der Tat minimal waren. Auch ohne diese Doktrin wussten die sowjetischen Komponisten, was sie in ihren Opern nicht zeigen und welche Texte sie nicht nutzen durften. „Kompositorische Verhaltensweisen“ wurden davon jedenfalls am wenigsten berührt.

Der „Sozialistische Realismus“ war also kein ästhetischer „Leitfaden“ für die sowjetischen Komponisten, er wurde vielmehr als spezielles Instrument der Einschüchterung und Gängelung der Künstler entworfen – jederzeit einsatzbereit, wenn der Staat es für angebracht hielt. Ein solches Instrument wurde in der NS-Musikpolitik aber offenbar nicht benötigt.
 

Literatur

  • Joseph Wulf: Musik im Dritten Reich, Rowohlt, Reinbek 1963
  • Fred Prieberg: Musik im NS-Staat, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1982
  • Eckard John: Musikbolschewismus: die Politisierung der Musik in Deutschland 1918-1938, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart-Weimar, 1994
  • Götz Aly, Wolf Gruner u.a. (Hg.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Band 1–16, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2008-2018