Judenfeindschaft: Gründe, Traditionen, Erscheinungsformen. Judenfeindschaft in der Musik. Judenfeindschaft heute

Der Anschlag kam nicht gänzlich unerwartet, sagt Jascha Nemtsov. Er ist Professor für jüdische Musik in Weimar, außerdem unterrichtet er am Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam. Aus Gesprächen mit Studenten, die in der Öffentlichkeit Kippa tragen und auch aus dem Bekanntenkreis wisse er, dass die Schamgrenze für antisemitische Übergriffe sinkt. Von einer allgemeinen judenfeindlichen Atmosphäre in Deutschland will er aber nicht sprechen.

Auch wenn das Viele nach den Ereignissen von Halle verständlicherweise emotional so empfinden würden. Aber er sieht ein großes Sicherheitsproblem, der Staat versage hier, sagt er deutlich. Nicht nur in Halle, wo es keinen Polizeischutz gab. Der Mann, der erst vor einer Woche mit einem Messer vor der Neuen Synagoge in Berlin auftauchte, sei kurz darauf auf freien Fuß gesetzt worden, antisemitische Straftaten ahnde die Polizei oft gar nicht. Er erwartet härteres Durchgreifen von Polizei und Justiz. „Wenn das potenziellen Tätern klar ist, überlegen sie zweimal, bevor sie einen Juden beschimpfen, bespucken oder angreifen.“

Fühlt man sich als Jude in Deutschland sicher? Von „sicher“, antwortet Jascha Nemtsov, kann man nicht sprechen.

(„Halle ist wirklich sehr nah“, in: Thüringer Allgemeine, 11.10.2019)


Halle steht für die Entfesselung rassistischer Gewalt. Und vor allem für das Versagen des Staates in seinem zentralen Auftrag, dem Schutz des öffentlichen Raumes.

(Matthias Döpfner: Nie wieder ‚nie wieder‘, in: Die Welt, 11.10.2019)

Judenfeindschaft: Gründe, Traditionen, Erscheinungsformen.

Es ist nicht leicht zu verstehen, warum ein relativ kleines Volk von gegenwärtig etwa 14 Millionen Menschen seit vielen Jahrhunderten derart ostentativ verschiedenen Verfolgungen ausgesetzt ist und warum immer wieder versucht wird, dieses Volk auszulöschen. Es ist umso schwieriger zu verstehen, als Juden während dieser Zeit einen enormen positiven Beitrag zur menschlichen Zivilisation leisteten.

Schon die Begrifflichkeit ist zum Teil verwirrend. Der Begriff „Antisemitismus“ ist historisch begrenzt, er wurde erst 1879 vom deutschen Publizisten Wilhelm Marr im Kontext der damals heftig diskutierten „Judenfrage“ eingeführt. Dieser Begriff ist euphemistisch, weil er sich in der Tat nicht auf alle semitischen Völker, sondern ausschließlich auf Juden bezieht, und pseudo-wissenschaftlich, weil er die Judenfeindschaft durch eine besondere „semitische“ Natur der Juden zu begründen versucht.

Das Wort „Judenhass“ beschreibt eher die emotionale Einstellung. Das Wort Hass ist dafür allerdings zu ungenau. Jeder Jude, der schon mal Opfer von Antisemiten war, weiß, dass seine Verfolger nicht nur Hass empfinden, sondern sogar Spaß daran haben, ihn zu quälen und zu schikanieren.

Es ist sehr schwierig, das Phänomen Judenfeindschaft einzuordnen. Es ist weder eine Form der Fremdenfeindlichkeit, noch eine Form des Rassismus, auch wenn beide Arten der sogenannten gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit dabei eine Rolle spielen können. Juden sind keine „Fremden“, sie passen sich in der Regel sehr schnell an. Das Judentum ist keine Rasse.

Antisemitismus ist mehr als Fremdenfeindlichkeit, auch mehr als ein soziales oder religiöses Vorurteil. Er ist eine antimoderne Weltanschauung, die in der Existenz der Juden die Ursache aller Probleme sieht.

(Dossier „Antisemitismus“ der Bundeszentrale für politische Bildung)

Es handelt sich um ein einzigartiges Phänomen, das keine Parallelen hat.

Aktueller Fall in Halle. Verfolgungen der jüdischen Gemeinde in Halle (Zusammenfassung auf http://www.jüdische-gemeinden.de):

  • Ende des 12. Jh.: frühester Nachweis jüdischer Ansiedlung
  • Zu Beginn des 13. Jh. soll die jüdische Siedlung, das „Judendorf“ von Christen in Brand gesteckt und seine Bewohner vertrieben worden sein.
  • Die Pestjahre von 1348/1349 forderten unter den Juden in Halle zahlreiche Opfer. Der Rest wurde vertrieben.
  • Gegen Ende des 14. Jh. gerieten die Juden unter den Verdacht der Brunnenvergiftung; dies hatte zur Folge, dass der Pöbel die Judenhäuser stürmte, diese zerstörte und viele Bewohner umbrachte.
  • 1452: Als der Hallesche Stadtrat auf Betreiben des Theologen Nikolaus von Kues die Juden zwang, ihre Geldgeschäfte aufzugeben und besondere Abzeichen zu tragen, waren sie ihrer Lebensgrundlage beraubt und kehrten der Stadt den Rücken.
  • 1493 wurden erneut alle Juden aus Halle gewaltsam vertrieben. Danach fast 200 Jahre kein jüdisches Leben in Halle.
  • 1688: Beginn der Neuansiedlung.
  • Die Hallesche Synagoge – am Großen Berlin unweit des alten Marktes gelegen – wurde 1724 „bei einem Tumulte vom Volk gestürmt“ und dabei fast völlig zerstört.
  • In der Pogromnacht 1938 wurde die Synagoge in Brand gesetzt, ihre Inneneinrichtung völlig vernichtet und das Gemeindehaus geschändet.
  • Bis 1941 sind vermutlich zwei Drittel der in Halle ansässigen Juden gezwungenermaßen emigriert.
  • In mehreren Transporten wurden die Zurückgebliebenen bis Dezember 1942 in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert.

Eine derartige Geschichte weisen die meisten Orte jüdischen Lebens auf.

Judenfeindschaft in der islamischen Welt:

  • Judenfeindliche Passagen im Koran
  • Massaker an Juden in den Hadithen
  • Gelbe Farbe für die Juden wurde erstmals im arabischen Kalifat zu Beginn des 9. Jh. eingeführt.
  • Das erste Pogrom auf europäischem Boden fand in Granada 1066 statt.
  • Moderner islamischer Judenhass


Die Judenfeindschaft erscheint in vielen verschiedenen Formen und unter ganz unterschiedlichen historischen Umständen, bei denen man kaum etwas Gemeinsames finden kann. Oft herrscht Ratlosigkeit – ist es ein Mysterium, ein unlösbares Rätsel der Geschichte?

Auf der anderen Seite ist die Judenfeindschaft gerade heute oft schwer zu greifen: Nicht jeder bekennt sich offen dazu. Nach dem Holocaust möchten nur die Wenigsten sich in der Nähe des Nationalsozialismus und in der unmittelbaren Tradition der Verbrechen des Naziregimes finden. In der westlichen Welt ist die Judenfeindschaft heute deswegen oft verschleiert.
 
Die wichtigsten Formen:

  • der religiöse Antijudaismus (hellenistisch-römisch, christlich und islamisch)
  • die soziale Judenfeindschaft (Kapitalismuskritik). Die Mutter des Attentäters von Halle: „Er hat nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen – wer hat das nicht?“ (Quelle: Der Spiegel, 11.9.2019)
  • die politische Judenfeindschaft (Verschwörungstheorien)
  • der rassistische Antisemitismus
  • die antizionistische Judenfeindschaft, die heute umso wirksamer ist, als der Staat Israel zum Mittelpunkt und Garant der weltweiten jüdischen Existenz wurde.


Allen Formen der Judenfeindschaft ist gemeinsam, dass es dabei nicht um bestimmte Aspekte des jüdischen Lebens oder jüdischen Verhaltens geht, sondern um das Judentum als Ganzes – auch wenn unter Umständen bestimmte Kritik an Juden formuliert wird. Wenn es darauf ankommt, geht es um die jüdische Existenz. Die Konsequenz der Judenfeindschaft ist immer die Vernichtung des jüdischen Lebens.

Die Judenfeindschaft hat eine beispiellose geschichtliche Kontinuität. Kulturen, Lebensweisen, Ideologien, Technologien, politische Formen wechseln, die Judenfeindschaft bleibt aber eine Konstante in den christlichen und islamischen Kulturräumen, sie manifestiert sich immer wieder in antijüdischer Gewalt. Aber auch in friedlichen Zeiten ist sie mehr oder weniger offen präsent.

Es gibt auch Juden, die judenfeindlich sind. Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass, Berlin 1930. Viele bekannte Beispiele:

  • Johannes (Joseph) Pfefferkorn (1469–1521), Autor von judenfeindlichen Schmähschriften, befürwortete Verbrennung jüdischer Bücher
  • Karl Marx (1818–1883): „Zur Judenfrage“ (1843)
  • Jakow Brafman (1824–1879): „Das Buch vom Kahal“ mit judenfeindlichen Verschwörungstheorien
  • Otto Weininger (1880–1903): „Geschlecht und Charakter“
  • Max Naumann (1875–1939) und sein „Verband nationaldeutscher Juden“
  • Der Holocaust-Überlebende Hajo G. Meyer (1924–2014): „Das Ende des Judentums“, er bezeichnete u. a. den Holocaust als „Laune der Geschichte“ und spekulierte über den Anspruch der Juden auf die Weltherrschaft.


„Die Ablehnung der eigenen jüdischen Identität erfolgt aus dem Wunsch, ein akzeptierter und integrierter Teil der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft zu werden, eine Hoffnung, die jedoch nicht erfüllt wird. Im Streben nach Aufnahme durch Assimilation und Anpassung, die sich einerseits religiös in der Konversion von Judentum zum Katholizismus oder Protestantismus oder andererseits in der Übernahme des rassistischen Deutschnationalismus und Antisemitismus manifestieren, bleibt das Stigma des Jüdischen ständig präsent.“

(Handbuch jüdischer Kulturgeschichte, hrsg. vom Zentrum für jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg, online: http://hbjk.sbg.ac.at/kapitel/juedischer-selbsthass/)


Was sind die Gründe der Judenfeindschaft? Es gibt viele Erklärungsversuche, die zwar an sich richtig sind, aber alle zu kurz greifen:

  • Juden als „Sündenbock“
  • „Tradition“
  • „Christlicher Antijudaismus“ wirkt fort.
  • Vorurteile von ungebildeten Menschen
  • Lokale Gründe ökonomischer Art, Neid und Missgunst


Das alles kann aber keine umfassende Erklärung dieses universellen Phänomens bieten.

Die Erklärung der Antisemiten: Juden sind selbst daran schuld, weil sie sich schlecht verhalten. Verschiedene Topoi des „schlechten jüdischen Verhaltens“:

  • im Mittelalter: Gottesmörder, Brunnenvergifter.
  • in der frühen Neuzeit: Ritualmordlegende, Hostienschändung, Wucher.
  • in der Moderne: Börsenspekulanten, Kapitalisten, aber auch „Judenbolschewiken“.
  • heute: israelische Politik, jüdische Siedler.

Solche Ansichten werden nicht nur von aktiven Judenfeinden verbreitet, sondern jeweils von der Mehrheit der Bevölkerung übernommen.

Diese Sicht wird auch von vielen Juden geteilt, die glauben, dass die Judenfeindschaft eine Reaktion auf jüdische Verfehlungen sei und wenn die Juden sich bessern würden, der Hass gegen sie abnehmen würde. Es ist psychologisch erklärbar: Die Juden bilden sich ein, dass sie ihre Feinde durch „gutes Benehmen“ beeinflussen können.
 

Die Judenfeindschaft hängt jedoch nicht mit dem konkreten jüdischen Verhalten zusammen. Sogar mehr, sie ist auch dort wirksam, wo es gar keine Juden gibt. Der Jude der Antisemiten ist ein Mythos.

Der Antisemitismus ist kein Problem der Juden, sondern vielmehr ein Problem der Antisemiten

(Julius H. Schoeps, Joachim Schlör (Hrsg.): Antisemitismus – Vorurteile und Mythen, München 1996)

Reiche Juden werden von Antisemiten gehasst, weil sie reich sind, arme Juden, weil sie der Gesellschaft zur Last fallen. Kluge Juden sind arrogant, dumme dermaßen erbärmlich, dass sie Ekel hervorrufen. Sozialistische Juden zersetzen die Gesellschaft, konservative stehen dem Fortschritt im Wege. Was immer der Jude tut (oder unterlässt), der Antisemit macht es ihm zur Vorwurf. Deswegen nutzt es nichts, wenn der Jude sein Verhalten ändert, um dem Antisemiten entgegenzukommen... Haben die Antisemiten in den 20er- und 30er-Jahren gerufen: „Juden raus nach Palästina!“, so rufen die Antizionisten heute: „Zionisten raus aus Palästina!“

(Henryk M. Broder, in: Die Welt, 13.01.2010)

Genauso zahlreich sind die Rezepte, wie man die Judenfeindschaft bekämpfen sollte. Oft wird die Aufklärung über das Judentum als wichtiges Mittel beschrieben. Das zeigte in der Geschichte allerdings so gut wie keine Wirkung. Es geht nicht um mangelnde Aufklärung und Bildung. Gerade der frühe deutsche Antisemitismus des 19. Jh. war eine Bewegung gebildeter Menschen.
Oft wird die Aufklärung über den Holocaust – etwa Besuche von Gedenkstätten und KZs oder Treffen mit Überlebenden – als Mittel gegen die Judenfeindschaft praktiziert, sie erweist sich zumeist als ebenso wirkungslos.

Selbstverständlich kann man die Judenfeindschaft nicht bekämpfen, solange man den Ursprung und die Gründe dieses Phänomens nicht versteht.
Es wäre allerdings auch naiv zu erwarten, dass ein Ressentiment, das so tief in den christlichen und islamischen Kulturen verwurzelt ist, durch einfache Maßnahmen wie Lehrgänge oder Veranstaltungen zu überwinden wäre.

Es ist logisch anzunehmen, dass es etwas Besonderes am Judentum geben muss, was diese beispiellose Feindschaft verursacht.

Schon ein oberflächlicher Blick auf judenfeindliche Ideologien – Islamismus, Nationalsozialismus, Kommunismus – zeigt, dass die Juden „etwas sehr richtig machen“, wenn der Judenhass von derartigen menschenverachtenden Ideologien ausgeht.

Die Judenfeindschaft entstand in der Antike in der hellenistischen Zeit, Grund dafür war der Widerstand der Juden gegen die totalitären Ansprüche der hellenistischen Herrscher im 2. Jh. v.Chr. Die Juden wollten ihre eigene Identität nicht aufgeben. Die Antike ist dagegen durch imperiales Denken geprägt – die herrschende Kultur musste von allen akzeptiert werden und die Völker mussten sich unterwerfen.

Die Weigerung der Juden, sich zu unterwerfen, wurde als besondere, böse Eigenschaft interpretiert.

Welche spezielle Identität hatten die Juden, die sie im Gegensatz zu vielen anderen Völkern auf keinen Fall aufgeben wollten? Das waren:

  • ein neues Gottesbild – die Vorstellung von Gott als Herrscher über das jüdische Volk, die jegliche weltliche Herrschaft relativierte und in Frage stellte. Das betraf insbesondere jede Fremdherrschaft. Dagegen war der weltliche Herrscher in der antiken Welt zugleich ein Gott.
  • ein neues Menschenbild – die Vorstellung von der Freiheit des Individuums, das selbst in der Lage ist, freie Entscheidungen zu treffen, und persönlich vor Gott dafür verantworten muss. Dieses humanistische Ideal ist in einer Welt entstanden, in der der Wert des Individuums extrem gering war und die von Sklaverei und absoluter Herrschaft geprägt war.
  • ein neues Gemeinschaftsbild – die Vorstellung vom jüdischen Volk als besonderer Gemeinschaft, die eine gemeinsame ethische Verantwortung vor Gott trägt. Die Gemeinschaften der antiken Welt wurden durch die jeweiligen Herrscher gebildet oder ethnisch geprägt. Somit waren die Juden historisch gesehen die erste Nation im modernen Sinn.


Diese Vorstellungen waren mit dem imperialen Denken und der imperialen Politik unvereinbar. Die ersten Versuche, das Judentum auszulöschen: Verbot der jüdischen Religion im 2. Jh. v.Chr. durch die Griechen, Niederschlagung der jüdischen Aufstände und Vertreibung der Juden durch die Römer im 1. und 2. Jh.

Die Hellenisierung und Romanisierung basierten auf der Idee eines Weltreichs. Imperium sine fine – grenzenloses Reich – ist die Idee einer Universalherrschaft, der Herrschaft über die gesamte Menschheit bzw. die bekannte Welt. Sie korrespondierte mit dem christlichen Einheitsgedanken. Seit dem 4. Jh. war das Christentum die Staatsreligion der Römischen Reichs. Der neue christliche Universalismus entwickelte sich mit der Vereinnahmung durch den römischen Staat zum Totalitarismus. Die Weltherrschaft wurde im Mittelalter auch vom der katholischen Kirche und dem Papst beansprucht. Auch Jesus Christus wurde als (letzter) Weltherrscher dargestellt.

Ähnliche Einstellung wurde im Islam übernommen:

Weil nur ein Gott und nur ein Himmel ist, so ist es gerecht, dass auf dem Erdreich auch nur ein Haupt und Regierer sei: Derselbe will Er sein und seinen Kopf nicht sanft legen, bis sie und die ganze Christenheit unter seine Gewalt bezwungen werden.

(Sultan Süleyman I. als Begründung seiner Belagerung Wiens 1529)

Christianisierung und Islamisierung – die politische Idee eines Weltreichs wurde in diesen Religionen in eine totale geistige Herrschaft übersetzt.

Die Existenz der Juden ist ein Stachel im Fleisch des Christentums und des Islam.

(Rabbiner Tovia Ben-Chorin bei den ACHAVA Festspielen Thüringen am 22.9.2019)

Heute ist die Existenz des Staats Israel ein Stachel im Fleisch von supranationalen Ideologien. Israel ist ein erfolgreicher und attraktiver Gegenentwurf dazu.

Das Judentum bedeutet auch heute die Relativierung jeder weltlicher und geistiger absoluter Macht. Das jüdische freiheitliche Weltbild widerspricht den totalen Machtansprüchen.

Das Judentum in der Moderne: Die Ideen der individuellen Freiheit waren mit der jüdischen geistigen Welt gut kompatibel. Nicht nur weil sie nun eher geduldet wurden, fühlten sich die Juden wohler unter den neuen Umständen, sondern auch weil in dieser Zeit erstmals Werte wie persönliche Initiative, Verantwortungsgefühl, Unternehmergeist, Kreativität und Bildung gefragt waren und zu Voraussetzungen des Erfolgs wurden. Diese Eigenschaften mussten die Juden nicht erst neu mühsam lernen.

Die Judenfeindschaft ist gering in den Gesellschaften, in denen Freiheit geschätzt wird.
Sie ist dagegen zwangsläufig Bestandteil jeder totalitären Ideologie.

Der primäre Grund für die Judenfeindschaft ist das jüdische Ideal von Freiheit und Eigenverantwortung – Judenhass ist Freiheitshass. Alle antimodernen Ideologien schließen daher die Judenfeindschaft ein.

Somit ist die Judenfeindschaft nicht bloß ein bedauerliches Randphänomen, sondern der Ausdruck eines zentralen Konfliktfelds der Moderne:

  • Freier und selbstverantwortlicher Bürger oder unmündiger Untertan
  • Freiheitliche Gesellschaft oder Totalitarismus
  • Nationalstaatliche Demokratie und Pluralität oder einheitliche Weltordnung

Judenfeindschaft in der Musik.

In der Musik der Synagoge der nachbiblischen Zeit kam eine neue Musikauffassung zum Ausdruck, die das jüdische Welt- und Gottesbild reflektierte. Das in der Spätantike entstandene jüdische Konzept der Freiheit und Eigenverantwortung des Individuums schloss die liturgische Hierarchie, die zuvor im Jerusalemer Tempel praktiziert wurde, aus. Jeder Mensch sollte im Gottesdienst selbst in einen persönlichen Dialog mit Gott treten. Nicht die Schönheit der musikalischen Form, sondern die Aufrichtigkeit und emotionale Intensität des Gebets stand dabei im Vordergrund.

Die Musik wurde nicht mehr als Abbild einer himmlischen Harmonie, sondern als Ausdruck der persönlichen Hingabe an Gott betrachtet. Im Mittelpunkt stand also nun primär der menschliche Gesang als Ausdruck des religiösen Innenlebens in einem zutiefst humanistischen Sinne. Diese Einstellung dominiert bis heute die Musik des jüdischen Gottesdiensts der orthodoxen Tradition. Es geht dabei überhaupt nicht mehr um eine musikalische Harmonie, sondern um eine persönliche und spontane musikalische Äußerung, die nicht unbedingt in einer ästhetisch vollendeten Form zum Ausdruck kommen muss. Eine wichtige Folge dieser Musikauffassung ist die absolute Herrschaft der Homophonie – die einstimmigen Gesänge verkörpern die Intimität und Vertraulichkeit des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott.

Das Klangbild des Gottesdiensts in einer orthodoxen Synagoge ist für ein an Harmonie gewöhntes Ohr eher irritierend: Es besteht oft aus vielen einzelnen melodischen und rhythmischen Elementen, die in keiner geordneten Verbindung zueinander stehen, sondern vielmehr ein musikalisches Stimmengewirr bilden, das zuweilen an manches Stück Neuer Musik erinnert.

Aus christlicher Sicht konnte in der synagogalen Musik keine Rede von einer schönen musikalischen Form mehr sein. Entsprechend wurde die jüdische liturgische Musik bereits im Mittelalter zum Gegenstand von Spott und Verachtung. Genauso wurden die mangelnde Ordnung des Gottesdiensts an sich und das rücksichtslose Verhalten der Beter zueinander angeprangert. Im Vergleich zu der heiligen Ordnung in der christlichen Kirche musste die Synagoge als chaotischer und würdeloser Ort erscheinen. Anstelle eines übergeordneten, die vielen Betenden verbindenden und ein Gemeinschaftsgefühl verleihenden Geschehens herrschte in der Synagoge gleichsam eine Anarchie, in der jeder Anwesende die Gebete in seinem eigenen Tempo zum Teil lautstark vortrug. Angesichts der engen überfüllten Räume überkam einen christlichen Beobachter daher ein verstörendes Gefühl, das einen denkbaren Gegensatz zur christlichen Andachtsstimmung bildete. Zu hören war keine schöne Musik mit ästhetischem und spirituellem Gehalt, sondern scheinbar nur sinnloser Lärm. Ruth HaCohen geht in ihrer fundierten Abhandlung „The Music Libel Against the Jews“ verschiedenen Aspekten dieser Spannung zwischen dem jüdischen „Lärm“ und der idealisierten christlichen „Harmonie“ nach, die seit dem Mittelalter und zum Teil sogar bis heute fortwirkt, sich in verschiedenen Vorurteilen manifestiert und zum Bestandteil des antisemitischen Weltbilds wurde. Richard Wagners bekannte Verunglimpfung der Musik der „Volkssynagoge“, die ihm in „allerwiderwärtigster Trübung“ erschien, steht somit in einer langen Tradition des christlich-jüdischen musikalischen Missverständnisses: „Wer hat nicht Gelegenheit gehabt, von der Fratze des gottesdienstlichen Gesanges in einer eigentlichen Volks-Synagoge sich zu überzeugen? Wer ist nicht von der widerwärtigsten Empfindung, gemischt von Grauenhaftigkeit und Lächerlichkeit, ergriffen worden beim Anhören jenes Sinn und Geist verwirrenden Gegurgels, Gejodels und Geplappers, das keine absichtliche Carricatur widerlicher zu entstellen vermag, als es sich hier mit vollem, naivem Ernste darbietet?“

(Richard Wagner: Das Judentum in der Musik, Verlagsbuchhandlung von J. J. Weber, Leipzig 1869, S. 22)

Im Mittelalter war das geistliche Spiel (auch geistliches Drama oder liturgisches Spiel genannt) die wichtigste Form der musikalischen Kultur außerhalb des kirchlichen Rahmens. Die Judenrollen waren ausschließlich negativ besetzt: Die Juden sind betrügerisch, arglistig, grausam, geizig, gierig, feige etc. Die anderen Gestalten wurden mehr oder weniger individualisiert, die Juden in ihrem sozialen, moralischen und religiösen Verhalten typisiert. Es gab keine Trennung zwischen Heilsgeschehen und Aufführungszeit: die biblischen Juden wurden mit den Juden der Städte des Mittelalters identifiziert. Verzerrtes Halbwissen über Sitten und Gebräuche der Juden. Die Kultur des Mittelalters basiert auf Geheimnis. Die Juden werden mit der Macht des Bösen, mit Nacht (Jesus=Sonne), mit Geheimnis assoziiert. Der Jude als Mythos.
Judentum als Projektionsfläche für eigene Ängste, Glaubenszweifel und Verfehlungen des mittelalterlichen Menschen.

Seit dem 13. Jh. erscheint in diesen geistlichen Spielen die Gattung „Judenturba“ (von lat. Turba: Volkshaufen, Schar, Getümmel, Trubel, Lärm). Die Worte der Juden werden lärmend und verzerrt vorgetragen, eine Tradition, die bis zu Bachs Passionen reicht.

Beispiele:

http://www.youtube.com/watch?v=R3RwZ9WpN10
(Johannes-Passion: Kreuzige, kreuzige)

http://www.youtube.com/watch?v=tbwRnnuLFw0
(Johannes-Passion: Weg, weg mit dem, kreuzige ihn)

https://www.youtube.com/watch?v=-YoOlaibCjc&list=PL990FB5CBCDBC9394
(Matthäus-Passion: Lass ihn kreuzigen)

Die Darstellung der Juden in der Barock-Zeit: Der Jude ist der Ausdruck einer ideologischen Einstellung. Das gilt gleichermaßen für positive („Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing) wie negative Bilder („Der Kaufmann von Venedig“ von Shakespeare). Beide Gestalten haben nichts mit den realen Juden zu tun. Der Jude wird nicht als realer Mensch, sondern als Träger einer Botschaft dargestellt.

Die gängigen jüdischen Stoffe und Figuren im europäischen Theater stammen aus dem Repertoire der Wandertruppen: Händler- und Schacher-Figuren, jüdische Matronen und „Rabbinen“ sind allesamt karikaturhafte Gestalten.

Ein erstes Beispiel für einen differenzierten jüdischen Charakter auf der Opernbühne bietet die Oper La Juive (1835) von Jacques Fromental Halévy. Sein Éléazar ist eine ambivalente Figur: Das traditionelle Judenbild des rächenden, „alttestamentarischen“ Juden ist hier zum ersten Mal mit positiven menschlichen Regungen verbunden.

Das Judenquintett in der Oper „Salome“ (1905) von Richard Strauss: das Wiederbeleben der Judenkarikatur.
https://www.youtube.com/watch?v=olNH0Sh14kI (ab 1:16 min)

Richard Wagner und das Judentum: Wagner gilt zu Recht als einer der wichtigsten und einflussreichsten antisemitischen Theoretiker seiner Zeit. Der Antisemitismus spielt nicht nur in seinen Schriften, sondern auch in seinem musikalischen Werk eine Schlüsselrolle. Die Opern Wagners sind von seiner ideologischen Einstellung nicht zu trennen. In seiner Zeit und noch jahrzehntelang nach seinem Tod war die Botschaft seiner Werke unmissverständlich.

… dass ich die jüdische Race für den geborenen Feind der reinen Menschheit und alles Edlen in ihr halt: dass namentlich wir Deutschen an ihnen zu Grunde gehen werden, ist gewiss, und vielleicht bin ich der letzte Deutsche, der sich gegen den bereits alle beherrschenden Judaismus als künstlerischer Mensch aufrecht zu erhalten wusste.

(Richard Wagner an König Ludwig II., 1882)
 

Kundry lebt ein unermessliches Leben unter stets wechselnden Wiedergeburten, in Folge einer uralten Verwünschung, die sie, ähnlich dem ‚ewigen Juden‘, dazu verdammt, in neuen Gestalten das Leiden der Liebesverführung über die Männer zu bringen; Erlösung, Auflösung, gänzliches Erlöschen ist ihr nur verheißen, wenn einst ein reinster, blühendster Mann ihrer machtvollsten Verführung widerstehen würde.

(Wagners Entwurf zu „Parsifal“, 1856)
 

[…] der verhängnisvolle Ring des Nibelungen, als Börsenportefeuille dürfte das schauerliche Bild des gespenstigen Weltbeherrschers zur Vollendung bringen. […] der plastische Dämon des Verfalls der Menschheit in triumphierender Sicherheit, und dazu der deutsche Staatsbürger mosaischer Konfession […]

(Richard Wagner: Erkenne dich selbst, 1881)

Man kann sich etwas ‚Antisemitischeres‘ als […] die Meistersinger und den Ring des Nibelungen gar nicht denken.

(Bernhard Förster, 1881)

Keiner […] wisse, wer Wagner wirklich sei. Er [Hitler] meine nicht bloß die Musik, sondern die ganze umstürzende Kulturlehre bis dahin in das scheinbar kleine, belanglose Detail […] Er – also Wagner – sei nicht bloß Musiker und Dichter. Er sei die größte Prophetengestalt, die das deutsche Volkswesen habe. Er, Hitler, sei durch Zufall oder Schickung früh auf Wagner gestoßen. Er hätte mit einer geradezu hysterischen Erregung gefunden, dass alles, was er von diesem großen Geist las, seiner innersten, unbewussten Anschauung entsprochen habe […] Das Problem ist: wie kann man den Rassenverfall aufhalten? […] Sie müssen übrigens den Parsifal ganz anders verstehen, als er gemeinhin interpretiert wird […] Nicht die christliche Schopenhauersche Mitleidsreligion wird verherrlicht, sondern das reine, adelige Blut, das in seiner Reinheit zu hüten und zu verherrlichen, sich die Brüderschaft der Wissenden zusammengefunden hat […] Ich kehre auf jeder Stufe meines Lebens zu ihm [also Wagner ] zurück. Nur ein neuer Adel kann uns die neue Kultur heraufführen. […] Meine Pädagogik ist hart […] Das Schwache muss weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich.

(Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler. Zürich 2005, S. 216ff.)
 

Literatur

  • Ruth HaCohen: The Music Libel Against the Jews, Yale University Press, New Haven 2013
  • Hans-Peter Bayerdörfer, Jens Malte Fischer (Hrsg.): Judenrollen: Darstellungsformen im europäischen Theater von der Restauration bis zur Zwischenkriegszeit, Tübingen: Niemeyer 2008
  • Michael Borgolte u.a. (Hrsg.): Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter, Akademie Verlag, Berlin 2011