„Entjudung“ der Kultur und des Alltags. „Entjudungsinstitut“ in Thüringen. Sprache im Totalitarismus.

Aus der Rede des Philosophen Martin Heidegger, Rektor der Universität Freiburg, bei der Festveranstaltung anlässlich des „Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“, Leipzig, 11. November 1933:

Deutsche Lehrer und Kameraden! Deutsche Volksgenossen und Volksgenossinnen! […] Die nationalsozialistische Revolution ist nicht bloß die Übernahme einer vorhandenen Macht im Staat durch eine andere Partei, sondern diese Revolution bringt die völlige Umwälzung unseres deutschen Daseins. Von nun an fordert jedwedes Ding Entscheidung und alles Tun Verantwortung.

(zit. nach: Sven Kramer, Hrsg.: Das Politische im literarischen Diskurs: Studien zur deutschen Gegenwartsliteratur, Wiesbaden 1996, S. 107)

„Entjudung“ als Teil des Aufbaus einer neuen Gesellschaft

„Entjudung“ der Kultur und des Alltags war nur ein Teil eines umfassenden Programms zum Aufbau einer neuen Gesellschaft und eines neuen Menschen. Dieses Programm wurde nicht nur von der NS-Führung entworfen, sondern entsprach schon lange dem Zeitgeist. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Kultur und die Gesellschaft von verschiedensten Reformbestrebungen geprägt. Diese Zeit wurde als revolutionäre Epoche wahrgenommen, die von der Hoffnung auf ein neues Zeitalter getragen wurde. Diese Stimmung brachte auch neue Ideen in der Kunst mit sich, die allesamt antibürgerlich waren. Die Bürgerlichkeit wurde als Inbegriff des Alten, Überkommenen, Konservativen verstanden. Sowohl die Modernisten als auch die Anhänger der ideologisch geprägten Musik waren Teil einer Revolution in der musikalischen Kunst. Beide Richtungen waren in ihrer Ablehnung der traditionellen bürgerlichen Kultur und dem Streben nach einer neuen Musikkultur vereint, die auf grundsätzlich neuen Prinzipien basieren und einer neuen – besseren, gerechteren – Gesellschaft entsprechen sollte. Ob es sich um kommunistische oder nationalsozialistische Kampf- und Arbeiterlieder handelte, um avantgardistische Strömungen in der Neuen Musik oder das Liedrepertoire der Jugendbewegung und der Lebensreform (etwa die Thüringer „Neue Schar“), um den amerikanischen Jazz oder die erotisch angehauchte Unterhaltungsmusik, um die dadaistischen Experimente oder die neuen Tänze – alle diese Richtungen verfolgten im Grunde eine „fortschrittliche“ ästhetische Agenda, die in vielen Fällen mit den linkspolitischen revolutionären Bewegungen – der kommunistischen und der nationalsozialistischen – kompatibel war.

Die Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus stand im Gegensatz zur bürgerlichen Moral, wie etwa die Experimente für die Züchtung der arischen Herrenrasse im Rahmen der Aktion Lebensborn.

Heute glauben viele Menschen, der Alltag im „Dritten Reich“ sei von Verfolgung und Diskriminierung geprägt gewesen. Aus der Perspektive der Opfer trifft das natürlich zu. Doch trotz ihrer großen Zahl war insgesamt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung von den Verfolgungsmaßnahmen betroffen. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen war davon nicht berührt ... Die Historiker sind sich einig, dass das Leben der meisten Deutschen damals erschreckend „normal“ verlief. Sie genossen den wirtschaftlichen Aufschwung, die sozialen Verbesserungen – und vielleicht sogar die Wertschätzung, die das neue Deutschland auch in Teilen des demokratischen Auslands erfuhr. Es gab eine weit verbreitete Aufbruchsstimmung, die auch manche Gegner mit dem NS-System versöhnte. (Roland Wehl)

Der Begriff Entjudung stammt aus dem 18. Jh.: Joachim Heinrich Campe, Wörterbuch der deutschen Sprache, Braunschweig 1807: „Entjuden, von allen Jüdischen Eigenheiten befreien.“

Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutete der Begriff zunehmend die Forderung nach einer „Entjudung“ in Form von Vertreibung jüdischer Menschen und der Entfernung jüdischer Spuren. Der Begriff wurde auch in anderen Ländern, z.B. in Polen nach 1918 verwendet.

Entjudung als Form der „Reinigung“:
Herbert Gerigk (1905–1996): „Die Reinigung unseres Kultur- und damit auch unseres Musiklebens von allen jüdischen Elementen ist erfolgt.“ Die Idee der Reinheit in Bezug auf die Gesellschaft stammte aus dem 19. Jh.

Die Entjudung fand in allen Bereichen statt – die Juden wurden konsequent aus dem öffentlichen Leben verdrängt, es gab schließlich kaum noch Kommunikation. Es blieben allerdings jüdische Spuren.

Arisierung in der Wirtschaft.
Fallbeispiel: Die Firma Hermann Tietz (Hertie), gegründet von Oscar Tietz mit dem Kapital seines Onkels Hermann Tietz 1882 in Gera.
Das Unternehmen wurde bereits 1933 in einem Zusammenwirken von staatlichen Strukturen, Banken und neuen „arischen“ Besitzern enteignet. Alle Seiten konnten sich auf Kosten der jüdischen Eigentümer bereichern.
 

„Entjudung“ in der Kirche

Mehrere biblische Inschriften mit alttestamentarischen Bezügen in der Georgenkirche in Eisenach wurden 1940 von den Kirchenemporen entfernt. Insgesamt wurden 12 biblische Zitate ersetzt:
→ https://www.fr.de/panorama/ns-vergangenheit-einer-kirche-11063871.html

„Zu den Versen an den Kirchenemporen, die vor den Deutschen Christen keine Gnade fanden, gehören demnach nicht nur die aus dem Alten Testament, sondern auch zwei aus dem Neuen – etwa „Zacharias sprach: gelobt sey der Herr, der Gott Israel/denn er hat besucht und erlöst seyn Volk“ aus dem Lukas-Evangelium sowie „Philippus spricht: Wir haben Jesum gefunden, von welchem Moses im Gesetz und die Propheten geschrieben haben“ aus dem Buch Johannes. „In beiden Zitaten störten sich die Deutschen Christen wohl an der Erwähnung Israels und des israelitischen Propheten Moses“, vermutet Köhler.“

Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben in Eisenach wurde am 4. April 1939 durch 11 evangelische Landeskirchen in Eisenach gegründet. Es gab ein Neues Testament unter dem Titel „Die Botschaft Gottes“ heraus, das um alle hebräischen Bezüge und Worte wie Amen, Hosianna und Halleluja gekürzt war. Außerdem wurde ein Katechismus „Deutsche mit Gott“ für die Lehre publiziert. Die zentrale Botschaft lautete: Jesus war Arier. Wissenschaftlicher Leiter war Walter Grundmann, Professor für Neues Testament an der Universität Jena. Er forderte 1942 unter dem Titel „Das religiöse Gesicht des Judentums“: „Der Jude muss als feindlicher und schädlicher Fremder betrachtet werden und von jeder Einflussnahme ausgeschaltet werden. In diesem notwendigen Prozess fällt der deutschen Geisteswissenschaft die Aufgabe zu, das geistige und religiöse Gesicht des Judentums scharf zu erkennen.“

1932/33 wählte jeder zweite Protestant Hitler, jedoch nur jeder vierte Katholik. Bei den Kirchenwahlen vom 23. Juni 1933 errangen die sogenannten Deutschen Christen in Thüringen 88 Prozent der abgegebenen Stimmen. Am 12. November 1933 ließ der gewählte Vorstand der thüringischen Landeskirche eine Erklärung von den Kanzeln verlesen:
Schuldige Dankespflicht gegen Gott und Adolf Hitler treibt uns, uns feierlich und einmütig hinter diesen Mann zu stellen, der unserem Volke und der Welt gesandt ist, die Macht der Finsternis zu überwinden! Wir rufen darum unsere Gemeinden auf, gleichen Sinnes mit uns sich als ein einig Volk von Brüdern hinter den Führer zu stellen.

(zit. nach: Dieter Andresen: Humanismus Gottes: Beiträge zu theologischer Identität und diskursfähigem Christentum, LIT Verlag, Berlin 2017, S. 547)

Aus der „Bekanntmachung über die kirchliche Stellung evangelischer Juden“ vom 17. Dezember 1941:
Die nationalsozialistische deutsche Führung hat mit zahlreichen Dokumenten unwiderleglich bewiesen, daß dieser Krieg in seinen weltweiten Ausmaßen von den Juden angezettelt worden ist. Sie hat deshalb im Innern wie nach außen die zur Sicherung des deutschen Lebens notwendigen Entscheidungen und Maßnahmen gegen das Judentum getroffen. Als Glieder der deutschen Volksgemeinschaft stehen die unterzeichneten deutschen evang. Landeskirchen in der Front dieses historischen Abwehrkampfes, der u. a. die Reichspolizei-Verordnung über die Kennzeichnung der Juden als der geborenen Welt- und Reichsfeinde notwendig gemacht hat, wie schon Dr. Martin Luther nach bitteren Erfahrungen die Forderung erhob, schärfste Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen und sie aus deutschen Landen auszuweisen. Von der Kreuzigung Christi bis zum heutigen Tage haben die Juden das Christentum bekämpft oder zur Erreichung ihrer eigennützigen Ziele mißbraucht und verfälscht. Durch die christliche Taufe wird an der rassischen Eigenart eines Juden, seiner Volkszugehörigkeit und seinem biologischen Sein nichts geändert. Eine deutsche evangelische Kirche hat das religiöse Leben deutscher Volksgenossen zu fördern. Rassejüdische Christen haben in ihr keinen Raum und kein Recht. Die unterzeichneten deutschen evangelischen Kirchenleiter haben deshalb jegliche Gemeinschaft mit Judenchristen aufgehoben. Sie sind entschlossen, keinerlei Einflüsse jüdischen Geistes auf das deutsche religiöse und kirchliche Leben zu dulden.

(zit. nach Günter Brakelmann: Luther und die Juden: Luther, der Protestantismus und der Holocaust, Norderstedt 2018, S. 85f.)
 

Entfernung der jüdischen Spuren aus dem Musikleben.

  • Neue Musik zu Shakespeares „Sommernachtstraum“, die Felix Mendelssohn Bartholdy ablösen sollte.
    Mindestens 44 Komponisten machten dabei mit, darunter auch Carl Orff. Vgl. Fred K. Prieberg: Musik im NS-Staat, Frankfurt 1982, 'Ein Sommernachtstraum – arisch', S.144–64.
  • Schallplattenaufnahme des Mozart-Requiems von 1941 mit Bruno Kittel und den Berliner Philharmonikern zum 150. Todestag Mozarts.
    Jeglicher Hinweis auf die jüdischen Wurzeln des Christentums wurde im Text entfernt. So hieß es etwa „Te decet hymnus, Deus in coelis“ statt „Deus in Sion“ (also „Gott im Himmel“ statt „Gott in Zion“) und „hic in terra“ („hier auf Erden“) statt „in Jerusalem“; „Quam olim Abrahae promisisti“ („wie Du einst Abraham versprochen hast“) wurde zu Quam olim homini promisisti („wie du einst dem Menschen versprochen hast“).
    → Aufnahme von 1941 auf Youtube

Bearbeitungen von Händels Oratorien

Rechtzeitig vor dem Händel-Jubiläum von 1935 ließ Goebbels im September 1934 in den Amtlichen Mitteilungen der Reichsmusikkammer offiziell erklären, dass „vom nationalsozialistischen Standpunkt aus“ keine Bedenken gegen „die Werke Händels, bei denen alttestamentarische Stoffe verwendet werden“, bestünden. Man bräuchte daher „einem Verlangen irgendwelcher Stellen zur willkürlichen Abänderung von Händel vertonter, auch alttestamentlicher Texte […] in keinem Falle nachgegeben zu werden“.

Katrin Gerlach, Lars Klingberg, Juliane Riepe: Wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Musik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Mitarbeit am DFG-Projekt Politische Instrumentalisierung der Musik der Vergangenheit im Deutschland des 20. Jahrhunderts am Beispiel Georg Friedrich Händels):

„Dennoch gab es bekanntlich im ›Dritten Reich‹ Bemühungen, Musik der Vergangenheit an die herrschende Ideologie anzupassen, indem man sie entsprechend bearbeitete. Einige der Oratorien Händels mit alttestamentlichem Sujet wurden (in unterschiedlicher Weise) ›entjudet‹. Anders als dies bisweilen in älteren Forschungsarbeiten zu lesen ist, kam die Initiative zu diesen Bearbeitungen durchaus nicht von nationalsozialistischen Amtsträgern. Das gilt auch für diejenigen Bearbeitungen, die in der NS-Kulturgemeinde, in der Reichsmusikprüfstelle und in der Reichsstelle für Musikbearbeitungen zur Begutachtung vorgelegt wurden, da sie in keinem einzigen nachweisbaren Fall von diesen Institutionen in Auftrag gegeben worden waren. Der nationalsozialistische Staat stellte sich sogar ausdrücklich gegen die weltanschaulich motivierte Bearbeitung älterer Musik. Rechtzeitig vor dem Händel-Jubiläum von 1935 ließ Goebbels im September 1934 in den Amtlichen Mitteilungen der Reichsmusikkammer offiziell erklären, dass »vom nationalsozialistischen Standpunkt aus« keine Bedenken gegen »die Werke Händels, bei denen alttestamentarische Stoffe verwendet werden«, bestünden. »Aus gegebener Veranlassung« wurde diese Erklärung im Januar 1935 bekräftigt; außerdem hieß es nun ausdrücklich, dass einem »Verlangen irgendwelcher Stellen zur willkürlichen Abänderung von Händel vertonter, auch alttestamentlicher Texte […] in keinem Falle nachgegeben zu werden« bräuchte. Es waren ›treue Volksgenossen‹, die – unaufgefordert und spontan – Musik der Vergangenheit so zurichteten, wie sie meinten, dass es der nationalsozialistischen Ideologie entspräche.“

(Katrin Gerlach, Lars Klingberg, Juliane Riepe: Parameter politischer Instrumentalisierung von Musik der Vergangenheit im Deutschland des 20. Jahrhunderts am Beispiel Georg Friedrich Händels, Beitrag zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung Halle/Saale 2015 – Musikwissenschaft: die Teildisziplinen im Dialog«, Schott Music, 2016, S. 3)

„Im Kaiserreich sieht man Händel als eine deutsche »Herrennatur«, die sich nur mit »großen Dingen« abgibt, als einen Komponisten, der seine »Kolonnen« wie ein Feldherr führt und dabei »allemal den Sieg« gewinnt wie der preußische Generalfeldmarschall Moltke. In der Weimarer Republik erklärt man ihn zum Demokraten, seine Oratorien zur »erste[n] demokratische[n] Kunstgattung«, im Nationalsozialismus wird er zum nordischen Kämpfer, seine Oratorien zur Apotheose des Gedankens der Volksgemeinschaft, in der DDR ist Händel »[k]ämpferisch, konkret, dem Volke zugewandt, dem Neuen aufgeschlossen, vorwärtsweisend, optimistisch«, seine Oratorien haben »klassenkämpferischen Inhalt«; in der alten Bundesrepublik einigt man sich auf Händels »hohe und freie Menschlichkeit«, später dann (so auch im Jahr der Europawahl 2009) erklärt man ihn zum »Europäer« oder zum kommerziell-medialen »Star«.

Ist der Komponist auf diese Weise zum Parteigenossen gemacht (zum Demokraten, Nationalsozialisten, Kommunisten, Europäer),

  1. so kann man ihn umso leichter per Zirkelschluss als Vorbild der eigenen Ideale präsentieren,
  2. dient die Herleitung eigener Werte aus der unumstritten ›großen‹ Vergangenheit der eigenen Legitimation,
  3. verfügt man auf diese Weise über eine Identifikationsfigur, die helfen kann, auch solche Menschen an die eigene Ideologie heranzuführen, die ihr sonst eher fern stehen.
  4. Die gleichen Strategien sind auch dann zu beobachten, wenn es nicht der Staat, sondern eine politisch-ideologisch anders ausgerichtete gesellschaftliche Gruppe ist, die politische Instrumentalisierung betreibt.“

(Ebd., S. 6-7)

„Wer Musik der Vergangenheit politisch instrumentalisieren will, wird nicht nur das Denken über den Komponisten und sein Werk der eigenen Ideologie anzugleichen versuchen. Mitunter ist es auch erforderlich, die Werke selbst so umzuformen, dass sie sich für die gewünschten Zwecke eignen, d. h. man bearbeitet sie. Diese Bearbeitungen betreffen in erster Linie Vokalmusik, und hier – weil für eine politische Botschaft vor allem die Worte relevant sind – insbesondere den vertonten Text. Was den einem Vokalwerk zugrundeliegenden Text angeht, gibt es offenbar zwei Varianten: Zum einen kann der
originale Text der gewünschten Nutzung im Wege stehen, weil er ihr politisch-ideologisch zuwiderläuft und Spiegel einer anderen als der eigenen Weltanschauung ist. Zum anderen kann es angebracht scheinen, einen weltanschaulich ›neutralen‹ Text ins Politische zu wenden. So ist auch die Geschichte der Händel-Rezeption eine Geschichte der Händel-Bearbeitungen; nicht zufällig wurden Händels Oratorien, um die seine Rezeption lange kreiste, in der Vergangenheit am häufigsten bearbeitet.“
(Ebd., S. 11)

Hermann Stephani (1877–1960) gilt als Begründer der Marburger Musikwissenschaft. Er wurde 1921 als erster Hochschullehrer für Musikwissenschaft an die Universität Marburg berufen, 1927 führte er das Fach Musikwissenschaft als Hauptfach ein. Stephani war seit 1932 im Kampfbund für deutsche Kultur aktiv, 1933 wurde er förderndes Mitglied der SS, 1937 trat er der NSDAP bei. Er gehörte außerdem u.a. dem Reichskolonialbund und der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene an.

Stephani profilierte sich bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts als Autor zahlreicher Bearbeitungen von Händels Oratorien.

„Judas Makkabäus“ wurde von ihm erstmals 1904 unter dem Titel „Judas Makkabäus. Oratorium in drei Akten von G. F. Händel“ bearbeitet (erschienen Leipzig: Kistner & Siegel; bis 1933 ca. 150 Aufführungen, darunter in den USA). Die nächste Bearbeitung dieses Oratoriums erschien 1914 unter dem Titel „(Judas) Makkabäus. Vaterländisches Oratorium.“ Bereits 1904 reduzierte Stephani den alttestamentarischen Kontext, und zwar, wie er 1908 schreibt, zur „Herausarbeitung eines einheitlich geschlossenen, innerlich, aber in lebensvoller Gegensätzlichkeit aufgebauten Volksdramas“. Eine weitere Bearbeitung erschien 1939 unter dem Titel „Der Feldherr. Freiheits-Oratorium von G. F. Händel“ (ebenfalls Leipzig: Kistner & Siegel).

„Jephta“ wurde von Stephani erstmals 1911 unter dem Titel „Jephta. Oratorium v. G. F. Händel“ bearbeitet (erschienen: Leipzig: Leuckart; bis 1941 insgesamt 150 Aufführungen);
ein zweites Mal 1941 unter dem Titel „Das Opfer. Oratorium von G. F. Händel“ bearbeitet (erschienen Leipzig: Leuckart).

Nach dem Krieg versuchte Stephani sich in diesem Zusammenhang als Widerstandskämpfer darzustellen: „Vor dem Zugriff der Gestapo schütze ich Mozarts Requiem, indem ich statt ‚quam olim Abrahae’ ‚quam tu credentibus’ singen ließ, in Brahms’ Requiem statt ‚Herr Zebaoth’ „O Herre Gott’, bei Händel statt ‚Jehovas Arm’ ‚des Herren Arm’, statt ‚Israel’ „Vaterland’, statt ‚Zion hebt’ ‚freudig hebt’. Um aber nun jene beiden alttestamentarischen Oratorien vor völliger Erloschenheit zu retten, ersetzte ich, wie bereits 1907 in Eisleben in Chor No 12 (vgl. Textbuch) das Wort ‚Judas’ durch ‚Feldherr’ und nannte Händels letztes Werk ‚Jephta’ ent¬sprechend dem Sinne seiner ergreifenden Handlung ‚Das Opfer’. Die Aufforderung des Propagandaministeriums an mich, den christlichen Kern der Händelorato¬rien durch Namen der griechischen Mythologie zu ersetzen, lehnte ich ab. In solcher nun endgültig ins Überparteiliche, Überzeitliche, Übervolkliche erhobenen Betitelung meiner Bearbeitungen von bereits 1904 bzw. 1911 aber ist es mir vergönnt gewesen, jene beiden Gipfelschöpfungen Händels dem Konzertleben wiederzugeben, ohne die gewaltigen religiösen Kräfte, die sie ausstrahlen, auch nur im allerleisesten anzutasten, und ihren erhabenen ethischen und künstlerischen Gehalt in über 100 seitdem erfolgten Neuaufführungen im Bewusstsein der Gegenwart wiederum zu verankern.“

(zit. nach: Sabine Henze-Döhring, „‘Er lebte nur seiner Musik …‘ – Hermann Stephani als Gründer des Marburger Musikwissenschaftlichen Seminars und Collegium musicum“, in: Germanistik und Kunstwissenschaften im „Dritten Reich“. Marburger Entwicklungen 1920–1950, hrsg. von Kai Köhler, Burghard Dedner und Waltraud Strickhausen, München 2005, online: https://www.uni-marburg.de/musik-in-hessen/biografien/hermannstephani)

Weitere Bearbeitungen: Johannes Klöcking (1883-1951) aus Lübeck bearbeitete mehrere Oratorien, darunter „Israel in Egypt“, das zum „Mongolensturm“ wurde, und „Judas Maccabäus“, das unter dem Titel „Wilhelm von Nassau“ aufgeführt wurde.

„Kann ein Volk, das die Führung einer Revolution im Kampf gegen das Weltjudentum in göttlichem und geschichtlichem Auftrag übernommen hat, sich eine Musikkultur leisten, in welcher es erlaubt ist, bedenkenlos – nur in ästhetischer Kunstbetrachtung – die Verherrlichung des jüdischen Rachegottes Jahwe zu besingen, während das Weltjudentum sich anschickt, die ganze Menschheit zum Zwecke der Vernichtung der arischen Rasse zu mobilisieren.“ (Hans Werner Görner: „Georg Friedrich Händel und die Judaismen“, in: Die Musik-Woche, 6.4.1941)

"Als Stoff für seine großen Oratorien wählte Händel zumeist die Sagen und Geschichten des Alten Testaments; als Beispiel für die Kraft des Volkstums erscheint also immer wieder das jüdische Volk. Kein vernünftiger Mensch wird daraus ableiten, Händel habe damit die Juden verherrlichen wollen. [...] Und doch: ganz unwesentlich ist nichts bei einem Kunstwerk; auch der Rohstoff hat seine Bedeutung. Wenn daher Händels große Chorschöpfungen ihre seelenformende Macht wirklich entfalten und als Heldengesänge von ewiger Volkskraft auf das gesamte deutsche Volk wirken sollen, dann wird man sich entschließen müssen, ihnen andere Texte zu unterlegen. Geschichte und Sagenwelt unserer eigenen Vergangenheit sind überreich an Stoffen, in denen deutsch-nordisches Wesen bildhaft Gestalt angenommen hat. Erst wenn es gelungen ist, der urgermanischen Tonwelt Händels auch germanische Stoffe zu gesellen, werden seine Oratorien ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen vermögen, dem deutschen Volke in seiner Gesamtheit Weiser zu heldisch-volkhafter Tonübung zu sein."

(Schumann, Otto: Geschichte der Deutschen Musik. Leipzig 1940. S. 144 f.)

„Wenn wir im wiedervereinigten Deutschland Schwierigkeiten haben mögen, eine politische Instrumentalisierung Händels zu erkennen, sollte uns dies also jedenfalls nicht vorschnell zu der Annahme verleiten, dass es dergleichen hier (und überhaupt in Demokratien) nicht gibt. Denn es ist schwerlich zu übersehen, dass der Komponist und sein Werk – so, wie wir beides wahrnehmen und deuten – an unsere Welt, an unser Denken, auch an unsere Sicht auf Geschichte und Politik angeglichen werden, heute kaum weniger als früher. Auch in der heutigen Zeit bilden Ideologien die Grundlage des Diskurses, mag dies auch weniger offenkundig sein als etwa in den Diktaturen. Es wird eine Herausforderung für die künftige Forschung sein, die Wechselwirkung zwischen diesen ideologischen Prozessen und der Sicht auf Musik der Vergangenheit offenzulegen und zu analysieren.“

(Katrin Gerlach, Lars Klingberg, Juliane Riepe: Parameter politischer Instrumentalisierung von Musik der Vergangenheit im Deutschland des 20. Jahrhunderts am Beispiel Georg Friedrich Händels, Beitrag zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung Halle/Saale 2015, Schott Music, 2016, S. 19)
 

Sprache im Totalitarismus

  • Victor Klemperer (1881–1960) und sein Buch „LTI – Notizbuch eines Philologen (Lingua Tertii Imperii)“ von 1947.
  • George Orwell: 1984. Neusprech (englisch: Newspeak).

Literatur

  • Katrin Gerlach, Lars Klingberg, Juliane Riepe: Parameter politischer Instrumentalisierung von Musik der Vergangenheit im Deutschland des 20. Jahrhunderts am Beispiel Georg Friedrich Händels, Beitrag zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung Halle/Saale 2015 – Musikwissenschaft: die Teildisziplinen im Dialog, Schott Music, 2016
  • Sabine Henze-Döhring: „Er lebte nur seiner Musik ...“ – Hermann Stephani als Gründer des Marburger Musikwissenschaftlichen Seminars und Collegium musicum, in: Germanistik und Kunstwissenschaften im "Dritten Reich", in: Marburger Entwicklungen 1920-1950 hrsg. von Kai Köhler, Burghard Dedner und Waltraud Strickhausen, München 2005, S. 83-95.
    Online: https://www.uni-marburg.de/musik-in-hessen/biografien/hermannstephani#_ftn1
  • Pamela Potter: Die deutscheste der Künste. Musik und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reichs, Stuttgart 2000
  • Katja Roters: Bearbeitungen von Händel-Oratorien im Dritten Reich, Halle (Saale) 1999
  • George Orwell: 1984, Frankfurt 1984, häufige Neuauflagen, zuletzt 2017
  • Victor Klemperer: LTI – Notizbuch eines Philologen, Reclam, zahlreiche Auflagen.