Johann Cilenšek: Erste Sinfonie für großes Orchester

„Ich muß sagen, daß diese und die früheren Werke noch viel zu polyphon belastet waren und wenig Eigenes boten. Sie waren außerdem zu wenig instrumentengerecht geschrieben.“ Mit diesen Worten begründet Johannes Cilenšek später, sämtliche seiner Werke bis zur frühen Nachkriegszeit vernichtet zu haben. Damit einher geht jedoch eine rasche künstlerische Entwicklung des Komponisten, die in Cilenšeks produktivstes Jahrzehnt, die 1960er, mündet.

In dieser Zeit entsteht auch Cilenšeks „Erste Sinfonie für großes Orchester“, an der er immerhin ein Jahr arbeitete, bevor sie am 7. Mai 1954 vom „Staatlichen Sinfonieorchester Thüringen“ in Gotha uraufgeführt wurde. Gerade mal zwei Jahre später erklingt sie schon zur Namensgebungsfeier der Musikhochschule Weimar im Rahmen der Festwoche. In diesem Kontext wurde sie am 24. Oktober 1956 im Klubhaus „Michael Niederkirchner“ in der heutigen Friedrich-Ebert-Straße 8 in Weimar aufgeführt, wobei die vorliegende Aufnahme entstand. Die Leitung übernahm der damalige Kapellmeister des städtischen Theaters Leipzig Heinz Fricke. Den Klangkörper bildete ein Zusammenschluss aus Hochschulorchester und Konservatoriumsorchester des heutigen Musikgymnasiums Belvedere. Außerdem wohnte der Komponist, damals selbst Professor an der Hochschule, der Aufführung vermutlich persönlich bei.

Die nachfolgende Werkeinführung greift manche Aspekte aus der 1977 erschienenen Doktorarbeit * „Johannes Cilenšek – Sein sinfonisches Werk“ von Bernd Junghanns auf. Daraus erschließt sich auch, dass Johannes Cilenšek den weit gebräuchlicheren Namen Johann nur zum Gedenken an seinen Vater für seine Werke verwendete, während er laut Personaldokumenten und Todesanzeige eigentlich Johannes hieß. Junghanns und Cilenšek tauschten sich möglicherweise laut Vorwort sowohl über das Formale als auch das Inhaltliche der Symphonie aus, worin eine in der DDR gebräuchliche spezifische Ästhetik mit hineingespielt haben kann. Beratend stand laut Vorwort zudem auch Walther Siegmund-Schulze zur Seite.

Die Symphonie besticht durch ihre bemerkenswerte stilistische Geschlossenheit. Gleichzeitig wird eine Verbindung zwischen klassischen Formprinzipien und modernem Ausdruck gezogen: In dieser wie in den vier weiteren Symphonien Cilenšeks kommt sein Ringen um eine eigene symphonische Sprache in der Auseinandersetzung mit dem historisch Tradierten der Musik zum Vorschein. So sind beispielsweise Begriffe wie ,Exposition’ oder ,Reprise’ im nachfolgenden interpretierenden Umriss der Sätze nur als Oberbegriffe zu verstehen. Prägend für das gesamte Werk ist ein Sekund-Terz-Motiv, das sich vom ersten Thema beginnend immer wieder in abgeleiteter Form finden lässt. Es kann durch sein ernstes, düsteres Pathos als Sinnbild für Konflikthaftigkeit verstanden werden. Das besagte Konflikthafte drängt auf eine symphonische Lösung hin, was im Kleinen wie im Großen seine Umsetzung findet.

Die Struktur des ersten Satzes ist in gewisser Weise auf die Struktur des gesamten Werks übertragbar. Die drei (!) Themen des ersten Satzes sind nicht unversöhnlich-gegensätzlich, viel mehr ergänzen die zwei späteren Themen das erste durch verschiedene Facetten. Während schon im ersten Thema scheinbare Widerstände wie zielstrebige Rastlosigkeit und lyrische, freundliche Elemente miteinander umwoben werden, folgt im zweiten Thema eine realistischere Haltung des ersten Themas, die durch ein heiteres Vorwärtsdrängen ergänzt wird. Das dritte Thema verdeutlicht in Anlehnung an das erste eine innere Auseinandersetzung divergierender Kräfte in Verbindung mit einem appellierenden Gestus. Daraus resultiert metaphorisch gesprochen ein Tatendrang, der sich in einer gewaltigen Schlusssteigerung entlädt.Dem modernen Ausdruck entsprechend finden die themenformenden Themenköpfe wie Leitmotive meist direkt im Anschluss ihres Erklingens eine Verarbeitung. Die Durchführung im klassischen Sinne entfällt somit komplett und erhält ihren Platz innerhalb des Expositions- und nachfolgenden Reprisenteils.

Äquivalent zu Thema zwei und drei (Satz eins) sind Satz zwei und drei als gedankliche Ausweitung des ersten durch Modifikationen zu verstehen. Der zweite Satz hat überwiegend tänzerisch anmutende Hauptthemen, die den Charakter des Satzes prägen. Der dritte Satz, mit 44 Takten der kürzeste im etwa halbstündigen Werk, besticht durch seine homogene Satzgestalt und den durchgängigen Einsatz des gesamten Streicherensembles. Schließlich führt der vierte Satz zu einer symphonischen Lösung. Aus der inneren Logik der bisher gestalteten Strukturen besitzt er Finalcharakter, jedoch ohne überdramatisierte und hochpathetische Gestaltung. Insgesamt lassen sich die Hauptmomente des inneren Ringens und Durchdringens von Gegensätzen und das Sich-durchsetzen einer neuen positiven Qualität festhalten.

Laut Junghanns wurde so aus einem politisch passiven Menschen in wenigen Jahren eine aktive und bewusst politisch denkende Künstlerpersönlichkeit. Das Wissen um große gesellschaftliche Zusammenhänge bewirke die Aneignung einer festen ästhetisch-politischen Position, die auch in der Kunst ihren Ausdruck finde und größere musikalische Formen ermögliche, so auch die Sinfonie. Ein Grund für Cilenšeks frühes ,sinfonisches Schweigen’ könnte der aufkommende Zweifel an den großen Idealen und Ideen seiner Zeit sein.

Doch Cilenšeks Symphonie lässt sich nicht auf die damalige politische Ästhetik reduzieren, sondern offenbart ihre ästhetische Autonomie auch jenseits der Selbstverständnisse der damals mit ihr befassten Person.

Lorenz Kestler